XXXVI

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Als ich dieses Mal die Eingangshalle durchquere, hüpfe ich nicht von weißer Fliese zu weißer Fliese, sondern gehe wie ein normaler Mensch über alle Felder. Die Turmuhr hat mir beim Rückweg vom Wald zum Schloss gezeigt, dass das Abendessen noch in vollem Gange sein sollte und nun bin ich auf dem Weg zum Speisesaal. Nicht etwa, um mich vor meiner Flucht zu stärken, sondern um Xanthio auf Wiedersehen zu sagen. Er wird es nicht verstehen und am Abend mit der Erwartung ins Bett gehen, mich am nächsten Tag beim Frühstück zu treffen, doch so wird es nicht kommen.
Als ich den Speisesaal betrete, verstummt das Stimmengewirr und verwandelt sich zu leisem Tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ich kann es niemandem verübeln. Allein der weiße Verband um meine Stirn sorgt schon für genug Aufmerksamkeit.
Xanthio hingegen strahlt über beide Ohren, als er mich sieht, und winkt mir zu. Auch heute hat er mir eine Portion aufgespart und ich muss mit aller Kraft die aufkeimenden Tränen hinunterschlucken. Er wird niemals erfahren, dass ich eine Spionin bin. Mit Sicherheit wird Arkyn nach meiner Flucht eine Fährte legen, die alle Gestaltenwandler in die Irre führt.
„Ist das jetzt etwa der letzte Schrei?", fragt Xanthio mich keck und deutet auf meinen weißen Verband. Ich grinse und greife nach der vollen Schüssel mit einer undefinierbaren Brühe. Weil ich ihn in dem Glauben lassen will, dass alles in bester Ordnung ist, schlinge ich das Zeug in ein paar Minuten hinunter und spüle dann mit Wasser nach.
Xanthio erzählt mir währenddessen von seinem Tag und ich gebe mein Bestes, um an den richtigen Stellen zu lachen und an anderen ungläubig den Kopf zu schütteln.
„Danke, Xanthio", sage ich, als ich die Schüssel geleert habe und er winkt gutmütig ab. Wenn er doch bloß wüsste, wofür dieses Dankeschön steht.
Ich entschuldige mich und verschwinde dann aus dem Speisesaal. Bevor ich die Tür hinter mir zuziehe, fällt mein Blick ein letztes Mal auf seine blonden Locken und die großen, wasserblauen Augen. „Lebe wohl", flüstere ich so leise, dass sich meine Lippen kaum bewegen, „Mögen die zwölf Göttinnen mit dir sein."

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Mit jeder Stufe, die mich hinauf zu meinem Zimmer führt, wird die Last auf meinen Schultern ein bisschen schwerer. Nun wird meine Flucht wohl doch nicht am ersten Tag des neuen Jahres sein, sondern vier Tage zu früh. Ich fühle mich um diese vier Tage betrogen; es ist, als hätte sie mir jemand gewaltsam entrissen.
Ich stürme an Arkyns Tür vorbei und merke, wie ich automatisch innehalte, doch ich zwinge meine Füße, weiterzugehen. Eins, zwei, drei, vier, zähle ich die Schritte zu meiner Tür und seufze erleichtert auf, als sie hinter mir ins Schloss fällt. Nur die Ruhe.
Eigentlich sollte ich meine sieben Sachen zusammenpacken und überlegen, wie ich lebend aus diesem Mist herauskomme, aber ich finde nicht die Kraft dazu. Stattdessen gebe ich mich meinen Gedanken hin, die unaufhaltsam durch meinen Kopf kreisen. Die Geburtstagsfeier von Zinariya kommt mir in den Sinn und ich fühle mich zurückversetzt an einen Abend voller Musik, schwerer Stoffe und ausgelassenem Lachen. Das Fest erinnert mich daran, dass es auch in größter Dunkelheit Freude gibt. Das Leben bei den Gestaltenwandlern gleicht dem in einer eigenen Welt, aber auch wenn die Regeln anders sind, zählen Freundschaft und Loyalität gleich viel.
Ich wechsle die Gestalt und stehe im nächsten Moment in einem wunderschönen, moosgrünen Kleid vor meinem Spiegel. Ich drehe mich, bis der Rock sich ausbreitet wie eine Knospe. Ich drehe mich und drehe mich und drehe mich, bis ich mir einbilde, Lautenklänge und leise Gespräche im Hintergrund zu hören. Am liebsten hätte ich nie damit aufgehört, aber irgendwann ist es an der Zeit, alte Muster zu brechen. Für mich ist es bald an der Zeit, diese eigene Welt zu verlassen. Ich halte an, lasse den Rock ein letztes Mal gegen meine Waden wallen und nehme dann wieder meine eigene Gestalt an. Nur die Ruhe.
Weil ich nicht die passenden Sachen für eine gefährliche Flucht trage, öffne ich meine Truhe und schlüpfe in ein Paar Hosen und einen warmen Pullover. Eine Tasche werde ich mir von Arkyn ausleihen können. Das Einzige, was ich unter keinen Umständen vergessen darf, ist mein Notizbuch.
Meine Hände tasten über den Tisch gegenüber von meinem Bett nach dem kleinen Buch. Aber es liegt nicht auf seinem Platz. Vermutlich habe ich es in die Truhe geräumt, überlege ich, und beginne, das Durcheinander in der Kiste vor meinem Bett zu durchwühlen. Nichts.
Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus und sicherheitshalber schaue ich auch noch unter meinem Kissen nach, doch wie erwartet bleibt das Notizbuch verschwunden. Inzwischen hat mein Herzschlag wieder sein Maximum erreicht und ich stelle mein ganzes Zimmer auf den Kopf, um den kleinen Informationsbunker zu finden. Erfolglos.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt