VII

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„Zu spät", stellt sie fest, die Arme in die Seiten gestemmt. Ihr Kleid schmiegt sich an ihren Körper und betont ihre gute Figur, nach unten hin weitet es sich und der rote Stoff umfließt sie wie eine Lache aus Blut.
„Entschuldigen Sie bitte", schnaufe ich, völlig außer Puste. Nachdem ich in meinem Zimmer das Gestaltenwandeln geübt hatte und dabei die Zeit vergessen hatte, musste ich den Weg zur Eingangshalle in mörderischem Tempo zurücklegen. Auf den rutschigen Steinstufen hätte ich mir beinahe das Genick gebrochen.
„Heute steht deine Schlossführung an, Clarice. Es dauert eine Weile, bis man sich hier zu recht findet." Ich nicke. „Ich bin schon froh, wenn ich von meinem Zimmer zum Speisesaal und wieder zurück finde."

Wir eilen die steinernen (und rutschigen!) Stufen hinauf und sie führt mich in den Speisesaal im ersten Stock. Dann geht die Führung erst richtig los. Vom Speisesaal geht es in eine riesige Küche, wo mehrere Menschen stehen und bereits das Mittagessen zubereiten. Sie arbeiten Hand in Hand an wuchtigen Holztischen, der Raum ist gefüllt mit dem Klappern von Töpfen und dem Prasseln des Feuers.
„Das ist Kwit, der Chefkoch", ruft mir Königin Zinariya zu und deutet auf einen kleinen, rundlichen Mann, auf dessen Glatze sich bereits die Schweißperlen sammeln. Die Riemen seiner ursprünglich wohl blütenweißen, jetzt bekleckerten Schürze schneiden sich in seinen fleischigen Rücken und er gestikuliert wild, während er Anweisungen erteilt.
„Hier befinden sich die meisten Zimmer", erklärt mir die Königin, während wir durch das zweite Stockwerk schlendern. „In jedem Gang gibt es Badezimmer, indem sich auch die Duschen befinden." Ich kann mir ein leises Seufzen nicht verkneifen. Wo sich die Badezimmer befinden, habe ich längst verstanden, aber mit dem Gedanken, sich mit anderen Frauen die Duschen teilen zu müssen, konnte ich mich noch nicht anfreunden.
In der dritten Etage sieht es ident wie in dem darunterliegenden Stockwerk aus und auch hier werden die Räume als Schlafzimmer genutzt. Die Königin führt mich ganz in den hinteren Teil des dritten Stockwerks und mir fällt auf, dass Abstände zwischen den Zimmertüren hier wachsen.
„Warum sind die Zimmer hier größer?", frage ich die Königin schüchtern, die sich nur ungern unterbrechen lässt.
„Hier wohnen die Mitglieder des Dunklen Rates. Sie haben größere Zimmer zugeteilt bekommen, außerdem können sie auf ihrem Zimmer essen und müssen nicht in den Speisesaal gehen."
„Der Dunkle Rat?"
„Im Rat befinden sich mit mir die zwanzig besten Gestaltenwandler. Wir halten Versammlungen ab, treffen wichtige Entscheidungen und beraten einander. Im Rat werden vertrauliche Informationen besprochen und wenn wer wirklich etwas erreichen will, strebt die Aufnahme in den Rat an."
Mein Herzschlag erhöht sich bei dem Teil mit den vertraulichen Informationen und ich frage sofort nach. „Wie kommt man in den Rat?"
Die Königin lacht leise. „Du scheinst ehrgeizig zu sein, aber bist du auch geduldig? Wer in den Rat will, muss großes Talent und Mut besitzen. Außerdem bist du erst seit Kurzem hier. Hab Geduld und streng dich an!"

Wir wandern weiter durch das Schloss, aber ich merke wie meine Gedanken abschweifen.
Es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ich hier bin. Spionieren, Informationen sammeln und die Fluchtpläne der Gestaltenwandler an Königin Charis weiterreichen. Anpassung hat oberste Priorität, das habe ich schnell gemerkt. Es ist unglaublich, wie schnell man jemanden seine Königin nennt, den man nicht unterstützt. Es ist erschreckend, wie schnell man sich vor jemandem verbeugt, auf dessen Seite man nicht steht.
Doch die Information über den Dunklen Rat hat mir neue Hoffnung geschenkt. Der einzige Weg an die Pläne zu kommen, ist ein Mitglied zu werden und der einzige Weg ein Mitglied zu werden, ist sich anzustrengen und Königin Zinariya zu beeindrucken.

Nach der Führung gehen wir zurück in die Eingangshalle, die bei Mittagslicht viel freundlicher aussieht als noch am Morgen. Erst jetzt fallen mir sechs Truhen auf, die jede Mauerseite säumen und so groß sind, dass ich mich locker darin verstecken könnte. Wahrscheinlich dienen sie zur Aufbewahrung verschiedener Gegenstände.
„Du hast jetzt freie Zeit. Mittagessen gibt es um ein Uhr im Speisesaal. Ich erwarte dich um zwei Uhr am Trainingsplatz für eine weitere Übungsstunde", schließt die Königin ab und entlässt mich mit diesen Worten. Bevor ich das Schloss verlasse, verbeuge ich mich leicht.
Ich beschließe einen kleinen Spaziergang zu machen. Draußen ist es zwar kalt, immerhin ist es November, aber ich muss unbedingt meinen Kopf freimachen. Zu viele Gedanken schwirren darin herum und sobald ich versuche einen festzuhalten, ist er plötzlich weg. Ich versuche mir zwar die ganzen neuen Informationen zu merken, aber es scheint beinahe unmöglich.
Gemächlich spaziere ich über den Weg, genieße das Knirschen des Kieses unter meinen Füßen und die eisige Luft, die meine Lungen füllt.
Wieder fällt mein Blick auf die Grabsteine, die am Wegesrand schief aus der Erde ragen. Vorsichtig bücke ich mich vor einem nieder und versuche die Inschrift zu lesen. Der Stein muss schon ewig dort stehen, so verwittert ist er. Mit den Fingernägeln kratze ich Moos und Dreck ab, in der Hoffnung die Buchstaben darauf entziffern zu können. Doch es ist kaum möglich.
Soweit ich erkennen kann, steht ein zweiteiliger Name dort. Irgendetwas mit C ... und ein j kommt auch vor.
Ich spaziere zu dem nächsten Grabstein. Die Inschrift darauf ist deutlich besser zu erkennen und nachdem ich Moos und Dreck abgekratzt habe, kann ich tatsächlich einen Namen lesen.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt