XXXV

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Mein Kopf dröhnt. Jede kleinste Bewegung fühlt sich an, als würde jemand mit einem Hammer auf meinen Schädel eindreschen. Meine Finger befühlen meine Stirn und ich spüre den weichen Stoff eines Verbands, der um meinen Kopf gewickelt ist.
„Clarice?" Diesmal ist es Magrettas Stimme.
Vorsichtig öffne ich die Augen. Es ist so hell, dass ich mich wie ein blindes Kätzchen fühle, das gerade das Licht der Welt erblickt. Magrettas warme, runzlige Hand legt sich in meine. „Wir haben uns schreckliche Sorgen um dich gemacht, mein Schatz. Arkyn geht es gut. Das Gift hat schon aufgehört zu wirken, seine Wunden heilen schnell."
„War die ... die Königin hier?", flüstere ich und bete zu den zwölf Göttinnen, dass Arkyn noch keine Zeit hatte, mich zu verpetzen.
„Nein, mein Schatz. Aber sie wird im Laufe des Tages kommen, um nach euch zu sehen. Dann könnt ihr mit ihr sprechen. Und jetzt lass mich deinen Verband wechseln."

Die nächsten Stunden liege ich wach und starre an die Decke. Meine Gedanken schwirren von verschiedensten Foltermethoden, die die Gestaltenwandler mit großer Wahrscheinlichkeit an mir austesten werden, bis hin zu Arkyn.
Man hat immer eine Wahl.
Er liegt im Bett gegenüber von mir und wenn ich meinen Kopf ein wenig anheben würde, könnte ich ihn sehen. Ich hebe meinen Kopf kein Stückchen an. Ich würde den verletzten, wütenden Blick in seinen dunklen Augen nicht ertragen. Die Gedanken, die mir durch den Kopf kreisen und meinen Schädel brummen lassen, sind schon schwer genug zu erdulden. Ob ich jetzt wohl noch fliehen kann? Wenn ich abhauen könnte, bevor Königin Zinariya uns einen Besuch abstattet, hätte ich dann eine Chance? Mein Notizbuch fällt mir ein; es muss noch in meinem Zimmer liegen und ohne die vielen Informationen darin wäre meine Flucht sowieso umsonst.
Zu Mittag öffnet sich die Tür und Janae erscheint im Rahmen. Ein kleines Lächeln umspielt ihre Lippen und ich merke, wie ihre Hände zittern, während sie ein Tablett mit gefüllten Tellern balanciert. Ich setze mich etwas umständlich auf; ignoriere meinen pochenden Schädel und nehme ihr dankend den Teller mit Suppe ab.
Als sich Arkyn gegenüber von mir aufrichtet und sich unsere Blicke treffen, rutscht mir vor Schreck der Löffel aus der Hand und scheppert zu Boden. Er zuckt nicht einmal mit der Wimper; sein Blick liegt immer noch auf mir, bevor er endlich den Kopf abwendet. Mein Herz trommelt gegen meine Rippen und ich widerstehe der Versuchung, den Suppenteller von meinem Schoß zu stoßen und davonzulaufen. Weit weg.
„Alles in Ordnung, Liebling?", fragt mich Janae besorgt und ich nicke, obwohl ein Tränenschleier meine Sicht vernebelt und ich ihr zartes Gesicht und die roten Locken doppelt sehe. Ihr Blick flattert zwischen Arkyn und mir hin und her, bevor sie endlich in die Küche eilt, um mir einen neuen Löffel zu holen.

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Als zwölf Glockenschläge in der Ferne ertönen und mir ankündigen, dass es bereits Mittag ist, verwerfe ich den Gedanken, lebend aus diesem verdammten Wald zu kommen. Sobald Arkyn Zinariya die Wahrheit erzählt, liegt mein Schicksal nicht mehr in meinen eigenen Händen. Die Gestaltenwandler werden jedes noch so kleine bisschen Information über Königin Charis aus mir herausquetschen, bevor ich in ihren Augen wertlos bin. Sie werden dich töten, flüstert eine boshafte Stimme in meinem Kopf und ich kralle die Fingernägel in die Matratze. Das werden sie und ich kann nichts tun, um es zu verhindern.
Die Angst schnürt mir die Luft ab und immer wieder schießt mir das Bild meiner Eltern durch den Kopf. Sie werden ihr Leben lang diese Ungewissheit in sich tragen müssen und nie wissen, was aus mir geworden ist. Meine Leiche wird in den Schattenwald geworfen werden und Todträgerinnen werden sich auf mich stürzen und um mein Fleisch kämpfen.
Der Gedanke jagt mir Angst ein, aber sie ist nicht groß genug, um Hals über Kopf zu flüchten. Eine überhetzte Flucht wäre ebenso der sichere Tod.
Vielleicht ist es mein Schicksal, hier zu enden. Das Mädchen, das tatsächlich dachte, sie könnte ihr Land retten. Ein heiseres Lachen rutscht mir über die Lippen.

Weitere Stunden verstreichen wortlos und zäh wie klebriger Honig. Irgendwann pocht es an der Tür und bevor sie sich öffnen kann, weiß ich schon, dass es Königin Zinariya ist. Ein zweites Mal an diesem Tag wage ich einen kurzen Blickwechsel mit Arkyn. Seine Augen funkeln, aber seine Miene zeigt keine Regung. Er ist mein Todesurteil.
Königin Zinariya betritt den Raum und bringt einen kühlen Luftschwall mit sich, der mir eine Gänsehaut über die Arme jagt. Als sie mich mustert, senke ich den Kopf. Zinariya erkundigt sich schnell nach unserem Wohlbefinden, auch wenn uns allen bewusst ist, dass es sie in Wirklichkeit nicht interessiert. Als sie schließlich genaueres zu dem Angriff hören will, übernimmt Arkyn das Wort und ich lasse ihn. Ich habe nichts mehr zu sagen.
„Wir wurden von einem Ormon angegriffen; nahe vor den Mauern zum Anwesen. Ich konnte ihn töten, aber er hat mich stark an den Beinen verletzt", beginnt er und sein Blick liegt auf mir und lässt meine Haut bitzeln, „Clarice hat mich noch ein paar Meter gezerrt, aber dann lief sie zu Rancor, der sofort Verstärkung geholt hat."
Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass Arkyn die Wahrheit verzerrt und das Geschehene so aussehen lässt, als hätte die Geschichte zwei Helden und nicht einen Schwerverletzten und eine Lügnerin. Den eiskalten Blick der Königin erwidert er, ohne mit der Wimper zu zucken, während ich mit laut pochendem Herzen sein Profil betrachte. Wieso lügt er für mich? Nach allem, was ich getan habe; nach allem, was er getan hat.
Die Königin stellt weitere Fragen, bohrt nach und Arkyn schwindelt wie ein Profi. Beinahe jagt mir ein bisschen Angst ein, wie leicht die Lügen doch von seinen Lippen kommen. Beinahe glaube ich selbst, was er Königin Zinariya erzählt.
Zinariya löst den Blick von Arkyn und blickt mich ernst an. „Ihr hattet Glück."
Ich weiß nicht, ob das eine Frage oder eine Feststellung ist, aber ich nicke zur Sicherheit.
Sie räuspert sich, ohne mich aus den Augen zu lassen und fährt fort: „Was mich an der Geschichte etwas wundert, ist, dass Clarice sich danach an einem unserer ehrwürdigen Gedenksteine den Schädel einschlagen wollte." Sie legt ihre Stirn in Falten und durchbohrt mich mit ihrem frostigen Blick. Mein Herz trommelt so laut in meiner Brust, dass ich das Gefühl habe, es müsse zerspringen.
„Ich war vollkommen durch den Wind", beginne ich und versuche, ihr in die Augen zu sehen.
Meine Erklärung scheint ihr nicht zu genügen und Arkyn springt für mich ein.
„Wir wurden nicht nur von dem Ormon angegriffen, sondern auch von einer seltsamen Nebelgestalt, die aus einem kleinen See im Nebelwald kam. Sie hat Clarice beinahe erwürgt."
Wie zum Beweis wandern meine Finger zu den Quetschwunden an meinem Hals. Sie sind inzwischen leicht bläulich bis violett, aber zum Glück ist die Schwellung zurückgegangen.
„Von so einer Gestalt habe ich noch nie gehört."
Ich mische mich wieder ein. „Wir auch nicht, wir wussten beide nicht, was wir tun sollten, aber Arkyn hat die Nebelfrau zerstört."
„Das gehört nachgetragen", befiehlt Zinariya, „In das Buch über den Schattenwald und seine Lebewesen. Höchst interessant."
Ich nicke eifrig und bete die Göttinnen an, dass sie endlich geht.
„Aber widmen wir uns den wirklich wichtigen Dingen. Stimmt es, dass ihr das Tor gefunden habt?"
„Das haben wir, in der Tat. Der Weg ist lang und gefährlich, aber wir haben eine vollständige Karte", erzählt Arkyn, „Nur noch ein Gestaltenwandler mit ... mit der Begabung, sich in ein Tier zu verwandeln fehlt."
Seine Stimme stockt kurz, während ich an die Wand hinter ihm starre und versuche, vor Scham nicht rot anzulaufen.
„Das wird sich einrichten lassen", meint Zinariya zuversichtlich und folgt meinem Blick an die Wand, als gäbe es dort tatsächlich etwas Interessanteres zu sehen als Gestein. Sie richtet sich auf und streckt den Rücken durch, bevor sie ihr langes, dunkelgrünes Kleid richtet und zu Arkyns Nachttisch tritt. Erst jetzt bemerke ich, dass unsere Karten, die wir in den Wald mitgenommen haben, dort liegen.
„Wer hat die Pläne gezeichnet? Arkyn, du etwa?", fragt sie und mir kommen die bemalten Wände im höchsten Turmzimmer in den Sinn, die sein Werk sind.
„Nein, Eure Majestät, Clarice hat die Karten gemalt und die Notizen verfasst", sagt Arkyn schließlich.
Die Königin nickt gedankenverloren und ihr langer Fingernagel kratzt über das dicke Papier der Karten. Plötzlich erinnert sie mich an eine Todträgerin, die mit ihren Krallen über die Rinde von Baumstämmen scharrt. Eine Gänsehaut zieht sich über meine Oberarme.
„Gut, da ich nun wieder am Stand der neuesten Dinge bin, kann ich mir Gedanken über die weitere Vorgehensweise machen. Ihr werdet heute noch in eure Zimmer im Schloss übersiedeln und im Laufe der nächsten Tage die Informationen zu dieser Nebelfrau niederschreiben."
Mit diesen Worten durchquert Zinariya den Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Schleppe ihres Kleids wischt über den Boden und wirbelt Staub auf, der im einfallenden Sonnenlicht munter tanzt. Als die Tür ins Schloss fällt, lässt sie mich und Arkyn mit wild klopfenden Herzen und vor Aufregung schwitzigen Händen zurück.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt