XXVII

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Der Tag, an dem Arkyn wieder in sein Zimmer übersiedelt wird, ist auch der Tag, an dem ich plötzlich keine Aufgabe mehr habe. Seit mehr als einer Woche hat sich mein Alltag nur um ihn gedreht und jetzt geht es ihm wieder so gut, dass er für sich selbst sorgen kann. Seine Wunden sind schon gut verheilt, die Salbe kann er selbst auftragen und füttern muss ich ihn schon längst nicht mehr.
Magretta und Janae haben mir vorgeschlagen, dass ich, solange bis wir wieder in den Schattenwald müssen, als Krankenpflegerin mithelfen kann. Doch das hat Königin Zinariya, obwohl ich wirklich gerne geholfen hätte, verboten. „Konzentrier dich auf das wirklich Wichtige", hat sie gesagt und damit meine und Arkyns Mission gemeint.
Von den Jagdausflügen wurden wir beide auch freigestellt.
Das Einzige, was wir den ganzen Tag lang machen, ist, im Geheimraum zu sitzen und über den Karten und den Drei Büchern zu brüten. Ich liebe den Geheimraum, aber nach einigen Stunden bekomme ich dort unten Platzangst und habe das Bedürfnis, an die frische Luft zu müssen. Der Stundenzeiger bewegt sich dort unten nur halb so schnell, während wir eine Karte nach der anderen zeichnen und spekulieren, wie weit es noch bis zum Tor ist.
Wir haben bereits drei Stützpunkte auserkoren. Nummer eins ist der moosbewachsene Felsen, den man nach etwa zehn Minuten schnellem Marsch erreicht, in weiteren dreißig Minuten kommt man zu dem umgefallenen Baumstamm und dann sind es noch etwa zehn Minuten bis zur Lichtung. Das ist der Ort, an dem wir fast von der Hayiki getötet worden sind, aber wir nennen es nicht Wir-wurden-fast-getötet-Stelle, sondern Lichtung. Das klingt, als würde es tatsächlich Licht im Schattenwald geben.
Arkyn meint, dass wir schon etwa ein Drittel des Weges abgesteckt hätten, aber ich glaube, dass es sogar mehr ist. Zumindest kommt es mir so vor.

Bis auf die langen Besprechungen im Geheimraum habe ich den ganzen Tag lang nichts zu tun; ich bin gereizt und schnippisch, am liebsten würde ich einen Tag draußen im Wald verbringen und mit auf die Jagd gehen, aber das würde Königin Zinariya nicht zulassen.
Stattdessen lerne ich die Drei Büchern und zeichne aus Langeweile einen Geländeplan des Anwesens und der Ländereien. Sogar eine Karte von der Raumaufteilung im Schloss mache ich. Ich versuche, nicht daran zu denken, aber eigentlich weiß ich doch genau, wieso ich es mache. Jegliche Art von Information könnte für Königin Charis wichtig sein.
Und wenn ich am Abend im Bett liege und versuche zu schlafen, obwohl ich kein bisschen müde bin, kreisen die Gedanken unablässig durch meinen Kopf und halten mich wach.
Nach ein paar schlaflosen Nächten gebe ich auf und nutze meine Zeit lieber sinnvoll.
Ich übe das Gestaltenwandeln und fühle mich dabei in meine ersten Tage hier zurückversetzt. Es kommt mir vor, als lägen Jahre zwischen damals und jetzt und Meilen zwischen meinem alten Ich und meinem neuen Selbst.
Ich beobachte, wie ich aufmerksamer werde, länger nachdenke, bevor ich spreche und wenn ich in den Spiegel blicke, fällt mir eine misstrauische Falte auf meiner Stirn ins Auge. Ich weiß nicht, ob ich über diese Veränderungen weinen oder lieber zufrieden sein soll.
Irgendwann wage ich auch, die Verwandlung in ein Tier zu üben. Zuerst probiere ich es wieder mit dem Eichhörnchen und es klappt beim dritten Versuch. Es kostet viel Energie, sich in ein Tier zu verwandeln und jedes Mal schmerzt es in den Eingeweiden. Doch auch darin wird man besser. Da ich viel Zeit zum Üben habe, probiere ich alles Mögliche aus.
Zuerst nur Eichhörnchen, dann eine Katze, einen Hund und ein Kaninchen. Die Verwandlung in diese vier Tiere beherrsche ich schnell. Für ein Pferd brauche ich ganze zwei Trainingsabende, aber dann klappt auch das. Als ich mich das erste Mal in eine Eule verwandle, ist das Gefühl irre. Ich fliege in meinem Zimmer herum bis ich beinahe den Spiegel von der Wand werfe, dann wage ich mich eines Nachts ins Freie.

Es ist unglaublich, wie scharf ich trotz Dunkelheit sehe. Ich genieße die nächtlichen Ausflüge; es ist ein großartiges Gefühl, den frischen Nachtwind in den Federn zu spüren und frei zu sein.
Eines Abends kommt mir der verrückte Gedanke, dass ich einfach zurück nach Satied fliegen könnte. Es würde meine Probleme auf einen Schlag lösen. Ich könnte jederzeit aufbrechen und müsste nicht den gefährlichen Marsch durch den Schattenwald auf mich nehmen.
Weil mir die Freiheit plötzlich so greifbar scheint, probiere ich es eines Abends sogar aus und flattere ein winziges Stück über dem Schattenwald einher.
Der Wald liegt unter mir wie ein schwarzes Tuch, nur die Bäume ragen in die Höhe wie Nadeln auf einem Brett. Doch meine Hoffnung, auf diese Weise zu fliehen, löst sich in Luft auf, als mir nach etwa fünfzehn Minuten in Gestalt einer Eule die Kraft ausgeht. Es erfordert höchste Konzentration, gleichzeitig die veränderte Gestalt beizubehalten und zu fliegen. Schweren Herzens verwerfe ich deshalb den Gedanken wieder, als Vogel zu flüchten.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt