XXIV

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Im ersten Moment bin ich einfach nur wie erstarrt und lausche dem Dröhnen meines Herzes in meinem Brustkorb. Was passiert hier? Das Gefühl, keine Luft zu bekommen, übermannt mich und ich sinke auf die Knie, die Handflächen auf die harte Erde gepresst. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde er gleich platzen. Lauf weg, schreit eine Stimme in mir und ich zwinge mich auf die zittrigen Knie.
„Arkyn", rufe ich, „Arkyn, wo bist du?"
Keine Antwort. Die Stille, die den Wald erneut erfüllt, jagt mir eine Gänsehaut über die Arme und raubt mir den Atem. Mein Blick fällt auf den Boden und ich erwarte, ein weiteres Mal zu fallen, doch meine Beine tragen mich weiterhin. Fußspuren, die in eine Schleifspur übergehen, blitzen unter mir auf.
Jemand – oder sollte ich besser sagen etwas – hat Arkyn mitgenommen. Wie in Trance folgt mein Blick der Spur, die sich bald schon im dunklen Schein des Walds verliert. Aus dem Augenwinkel nehme ich war, wie die schwarzen Äste der Bäume sich sanft bewegen und nach mir zu greifen scheinen. Vor Schreck sprinte ich los, bevor ich darüber nachdenken kann.
Nichts als ewiges Rauschen hallt durch meine Ohren, als ich den Abdrücken in der Erde folge. Welches Wesen kann das gewesen sein? Wer tut so etwas? Was muss ich tun?
Eine Stimme durchbricht die beängstigende Ruhe. „Clarice. Lauf weg, Cla...", brüllt er, dann ertönt ein schmerzerfüllter Schrei und es ist still.
Vor Sorge wird mir ganz schlecht. „Arkyn, wo bist du?", kreische ich und erhöhe mein Tempo, folge blindlings der Spur. Meine Füße tragen mich über den matschiger werdenden Erdboden, ich schlittere über Laub und Moos, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Stunden und Sekunden vergehen plötzlich gleich schnell. Die Zeit verrinnt, der Wald um mich verschmilzt zu einer schwarzen Wand. Meine Gedanken rasen durch meinen Kopf, während meine Füße über den Boden trommeln wie die Laute eines sich nähernden Gewitters.
Da sehe ich ihn vor mir. Ein winziger Sonnenstrahl erhellt den Baum ein bisschen, an den er gebunden wurde. Sein Körper übersät mit Kratzern, dunkles Blut läuft über seinen Arm und tropft auf den Boden. Als er mich sieht, schreit er auf.
Ich stürme zu ihm, will die Fesseln aus lianen-ähnlichem Gestrüpp lösen, seine Wunden versorgen. Ich stürme zu ihm und laufe wie ein blindes Huhn direkt in die Falle.
Etwas packt mich an den Haaren, schmerzerfüllt schreie ich auf. Eine Hand legt sich auf meinen Mund und ein hartes Knie bohrt sich in meinen Rücken.
Die Finger auf meinem Mund sind überraschend weich. Eine beruhigende Stimme flüstert mir undeutliche Worte ins Ohr. Ganz weich klingt die Stimme und warm ist der Atem der Kreatur an meinem Hals.
In diesem Moment weiß ich es. Die Ahnung durchfährt mich wie ein Blitz.
Eine Hayiki.
Ein Wesen, das die Merkmale von seinen Opfern annimmt. Sie quält ihre Opfer, schneidet sie in Einzelteile und nimmt sich, was sie braucht. Zu ihrer Geburt sind Hayikis durchsichtig, sie nehmen immer ein Merkmal pro Opfer an.
Ich beginne zu schreien, um mich zu schlagen, doch sie ist stark und bald bin auch ich an einen Baum direkt neben Arkyn gefesselt. Die Seile drücken sich in meine Haut und bald fühlt es sich an, als wären meine gesamten Gliedmaßen eingeschlafen, weil ihnen die Blutzufuhr abgeschnürt wird. Nur mein Herz rast wie wild in meiner Brust.

Jetzt erst bekomme ich die Hayiki zu Gesicht. Sie ist schlank und hat blaue, warme Augen, die überhaupt nicht zu ihrem tödlichen Naturell passen. Das sind auch nicht ihre Augen, korrigiere ich mich. Irgendeinem ihrer Opfer müssen diese wunderschönen Augen gehört haben.
Ihr weites, weißes Kleid bauscht sich im Wind wie die Segel eines Schiffs. Ihre Lippen sind voll und blutrot, doch als mein Blick ihren Konturen folgt, muss ich nach Luft schnappen. Sie hat keine Nase. An der Stelle, wo die Nase sitze sollte, herrscht gähnende Leere. Durchsichtig, denke ich, sie besitzt noch ihre eigene, durchsichtige Nase.
Auch ihr Kopf ist nackt und glänzt weißlich.
Sie lacht keckernd. Ihre Stimme ist hoch und unangenehm. Doch das ist auch nicht ihre Stimme. Ich presse mich gegen den Baum. Helft mir, helft mir, Göttinnen. Lasst dies nicht mein Ende sein, bete ich schweigend und lasse dieses Wesen nicht aus den Augen.
Arkyn neben mir hängt schwach in den Fesseln. Ich merke, dass seine Kraft schwindet. Er blutet stark.
In meinem Kopf rattert es. Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, diese Bestie zu besiegen. Nein, korrigiere ich mich, eine Hayiki ist praktisch unbesiegbar. Sie kann ohne jegliche Organe leben, einzig alleine ihre Gier, wie ein Mensch auszusehen, ist der Grund, warum sie Menschen tötet, um deren Merkmale aufzunehmen. Der einzige Weg, eine Hayiki zu töten, ist ihr das Herz herauszuschneiden. Das einzige Organ, das sie seit der Geburt besitzt. Mit der Schwierigkeit, dass es durchsichtig ist. Wir haben keine Chance.
„Jetzt seid ihr mein", haucht die Hayiki, sie wirft den Kopf in den Nacken und breitet die Arme aus. „Meins, meins, meins." Ihr Singsang ist unerträglich, ich kämpfe mit den Tränen und der Angst zugleich. Die Hayiki beginnt sich zu drehen, ihr Kleid schwingt ihr um die nackten Beine und mir wird ganz schwindelig vom Zusehen. „Meins, meins, meins", frohlockt sie, dann bleibt sie auf einmal abrupt stehen. Durch ihre blauen Augen stiert sie mich an.
„Deine Haare", faucht sie und macht einen gewaltigen Satz auf mich zu, erschrocken schreie ich auf, „Deine Haare sind schön, Menschlein. Die will ich."
„Fass sie nicht an, du hässliches Ding", brüllt Arkyn, seine Kraft scheint zurückzukommen. Mit vor Wut blitzenden Augen fährt die Hayiki herum und stürmt auf Arkyn zu. Plötzlich hält sie ein Messer gezückt in der rechten Hand. „Halt die Klappe, du widerwärtiger Abschaum", kreischt sie. Sie holt aus und sticht das Messer ein Stück in Arkyns anderen, unverletzten Arm. Ich schreie in dem Moment auf, in dem sich die Klinge in sein Fleisch bohrt. Arkyn brüllt und windet sich vor Schmerzen, Blut – schwarz wie Tinte – läuft seinen Arm hinunter.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt