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Es kommt mir vor, als wäre ich tagelang gewandert, es könnten aber auch nur wenige Minuten gewesen sein. Mein komplettes Zeitgefühl ist auf den Kopf gestellt und immer wieder denke ich, dass das Schloss doch hinter dem nächsten Baum auftauchen müsste. Doch ich täusche mich jedes Mal. Unermüdlich laufe ich weiter, von Baum zu Baum.
Die Tränen auf meinen Wangen sind eingetrocknet und mein Herzschlag hat sich beruhigt.
Ich will gerade eine kleine Pause einlegen und mich auf den kalten Erdboden setzen, als ich in der Ferne ein schummriges Licht erkenne. Zitternd presse ich mich an den Stamm eines knorrigen Baums und bete, dass es keine der Kreaturen ist.
Was auch immer es ist, es scheint sich nicht zu bewegen. Zögernd nähere ich mich dem Licht, husche von Baumstamm zu Baumstamm. Das Licht bleibt an Ort und Stelle.
Prompt macht mein Herz einen kleinen Hüpfer. Was, wenn das keine finstere Kreatur ist, sondern ganz normales Licht? Ich schüttle meine Zweifel ab und laufe darauf zu. Zwar achte ich darauf, keine lauten Geräusche zu verursachen, aber je näher ich dem hellerwerdenden Punkt in der Ferne komme, desto stärker wird meine Zuversicht.
Tatsächlich tut sich, kurz bevor ich das Licht erreicht habe, vor mir eine etwa fünf meterhohe Steinmauer auf, in die ein Tor eingelassen ist. Von dort kommt die Lichtquelle. Ich eile darauf zu, umklammere mit meinen Fingern die kalten Stäbe des Eisentors und rufe.
„Hallo? Ist da jemand? Hilfe, ich bin hier drüben." Meine Stimme hallt durch die Nacht. Ich versuche zu erkennen, was hinter dem Tor liegt, aber es ist zu dunkel. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob dahinter überhaupt das Schloss ist, aber ich klammere mich schmerzlich an das letzte bisschen Hoffnung, das ich noch in mir habe.

Auf einmal schiebt sich etwas in mein Blickfeld. Vor Schreck zucke ich zusammen, als ich in ein eingefallenes Gesicht blicke, das unter einem schwarzen Kapuzenanzug hervorlukt. Zwei Augen funkeln mich neugierig an; sie sehen aus wie schwarze Perlen, die in bleichen Teig gedrückt wurden. Der Mann benetzt die rissigen Lippen mit der Zunge und ich beobachte, wie er einen Schlüsselbund hervorholt, an dem ein Dutzend Schlüssel in den unterschiedlichsten Größen baumeln. Sie klirren aneinander wie das Windspiel, das ich Zuhause vor der Eingangstür aufgehängt habe.
Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis der richtige Schlüssel gefunden ist und das Tor mit einem Klicken aufspringt. Ich weiß nicht, ob ich vor Erleichterung oder Angst ohnmächtig werden soll.
Die Kapuzengestalt nimmt mir meine Entscheidung ab, packt meinen Arm und zerrt mich herein. Als die eiskalten Finger meinen Arm umschließen, rutscht mir ein erschrockenes Quietschen über die Lippen, was er nur mit einem heiseren Lachen quittiert.
Der Mann sperrt das Tor wieder sorgfältig ab und zerrt mich weiter. Er hinkt und das schummrige Licht seiner Laterne wackelt im Takt.

Ich lasse meinen Blick umher gleiten und entdecke einen schmalen Kiesweg, der die leichte Anhöhe hinauf zu einem großen Gebäude führt. Die Fassade des Anwesens ist dunkel und der Schatten, den es auf das Gras wirft, scheint alles zu verschlingen.
In den schmutzigen Fenstern spiegelt sich bläuliches Mondlicht und wilde Gewächse klammern sich an die Mauer wie Schlangen. Ich werfe einen letzten Blick hinter meine Schulter und erkenne die Steinmauer und das Tor wieder. Ich versuche der Mauer mit meinen Augen zu folgen, aber sie verliert sich in Nebelschwaden weit hinter dem Anwesen.
Der Kies knirscht laut unter meinen Schuhen und das Geräusch hallt durch die stille Nacht. Obwohl die Gestalt humpelt, kann ich vor lauter Erschöpfung nicht mithalten. Erst jetzt merke ich, wie müde und hungrig ich bin. Auch meine Kehle ist ganz ausgetrocknet.
Je näher wir dem Schloss kommen, desto nervöser werde ich. Der bedrohliche Anblick, den das Anwesen ausstrahlt, macht es nicht besser.
Ich stelle mir vor, dass die Frontmauer nach vorne kippt und mich darunter begräbt, wie ein Schattenwesen, das auf der Jagd ist.
Die Ungewissheit schnürt mir die Brust zusammen, sodass ich fast keine Luft bekomme. Mein Blick wandert über den Rasen neben dem Weg. Ich erkenne seltsame, relativ große Steine, die verstreut neben dem Wegesrand stehen und windschief aus der Erde ragen.
„Was ist das?", krächze ich heiser und deute auf die Steine. Die Gestalt, die mich hereingeholt hat, bleibt kurz stehen und lacht ein raues, kratziges Lachen, das mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Hast du noch nie Grabsteine gesehen, Mädchen?", fragt er.
Mein Herz setzt für einen Schlag aus.

Der Mann nimmt darauf keine Rücksicht und ich werde die Stufen zum Eingangsportal hochgezerrt. Mein Blick wandert die graue, schmutzige Fassade hinauf. Unter den Schlingpflanzen und dem Staub muss ein strahlender Schwan stecken. Damals, in Zeiten so vergangen, dass sie in Geschichtsbüchern wirken wie eine andere Dimension, muss das Schloss wohl zauberhaft gewesen sein. Es war einmal die Sommerresidenz der königlichen Familie und wenn ich jetzt die Augen schließe, würde ich wahrscheinlich das Toben und Lachen der Königskinder hören, die hier gespielt haben. Doch nun ist es verwittert und sieht aus, als könne es direkt aus einem der Gruselbücher, die ich so gerne lese, entspringen.
„Wie heißt du, Mädchen?", fragt die Kapuzengestalt, während ich durch die geöffnete Tür bugsiert werde. „Clarice, Clarice Ovun", krächze ich und stolpere durch das Tor.
Wir betreten eine weitläufige, lange Eingangshalle. Die ganzen Eindrücke, die auf mich wirken, machen mich schwindlig. Der Fliesenboden mit schwarzweißem Schachbrettmuster, das schummrige Fackellicht, das verzerrte Schatten auf die hohen, dunklen Wände wirft. Das alles scheint mich zu erdrücken.

Von der Decke hängt ein riesiger Kronleuchter, um dessen Kerzen sich bereits feinfädige Spinnweben ziehen wie die Fänge der Dunkelheit. Ganz anders als die vergoldeten Kronleuchter im Palast von Königin Charis. Ich reiße meinen Blick von der Decke los und blicke nach vorne, wo ein schwarzer Thron steht, auf dem jemand sitzt. Ich erkenne bleiche Unterarme auf Stuhllehnen, aber das Gesicht der Person ist vom Schatten verborgen.
„Eine Neue", brummt der Alte.
„Eine Neue?"
Die Stimme der am Thron sitzenden Person ist kühl, kraftvoll und muss einer Frau gehören.
„Bring sie her!"
Die Stimme der Frau duldet keinen Widerspruch, das merke ich sofort.
Vor Aufregung zieht sich alles in mir zusammen, ich sträube mich, als ich den Gang entlang geschleift werde.
Sie hat sich von ihrem Thron erhoben und als sie einen Schritt nach vorne tut, setzt mein Herz für einen winzigen Augenblick aus. Diese Frau würde ich überall wiedererkennen. Sie ist die verbannte Prinzessin, Prinzessin Zinarya.

Auch wenn ihr Haar langes, hüftlanges Haar rabenschwarz ist, erkenne ich eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen ihr und Königin Charis. Das blasse Gesicht, dieselben hohen Wangenknochen und blauen Augen wie die Königin, auch wenn ihre mich kritisch mustern und kalt wie Eis sind. Die Schatten scheinen an ihrer Schönheit zu zehren.
„Clarice. Schöner Name", sagt sie leise und es klingt gefährlich, als würde sie mir bereits eine Messerklinge an den Hals halten, „Ich denke, wir werden morgen noch genug Zeit haben, einander vorzustellen. Am besten Rancor zeigt dir dein Zimmer." Ich traue mich nicht zu antworten.
Der Mann mit dem Schlüssel, Rancor, packt mich wieder am Arm und verbeugt sich leicht vor der Königin, während er mich rückwärts wegzieht. Ich kann nicht anders als die eindrucksvolle Gestalt am Thron anzustarren.

Rancor führt mich die steinerne Treppe hinauf, die sich links und rechts neben dem Thron verzweigt und im nächsten Stockwerk wieder vereint. Die Stufen sind blankgeschliffen und abgenutzt von den vielen Füßen, die bereits durch das Schloss irrten. Am Gang sehe ich keine anderen Menschen, vermutlich schlafen alle.
Rancor zerrt mich weiter und die Zeit, in der wir durch das Schloss wandern, kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Die schmalen, dunklen Gänge verzweigen sich ständig neu, manche enden in einer Sackgasse. Doch Rancor führt mich zielsicher durch das Gebäude.

Schließlich bleibt er stehen und deutet auf eine Holztür. „Dein Zimmer", meint er schlicht.
Vorsichtig drücke ich die Türklinke hinunter und betrete mein neues Zuhause. Es ist bloß ein kleiner Raum, indem ein klappriges Holzbett den meisten Platz einnimmt. Daneben steht ein Tisch mit Stuhl. Die Wand ist schmutzig weiß, bloß ein Spiegel hängt im Zimmer.
Zögerlich betrachte ich mein geschundenes Selbst im Spiegel.
Mein Gesicht ist ganz dreckig, ebenso meine Haare und Hände. In meiner blonden Mähne hängen Blätter und Aststückchen und mein Kleid ist zerrissen.
„Gibt es einen Schlüssel?", frage ich Rancor und wende den Blick von meinem Spiegelbild ab.
Rancor schnaubt und seine buschigen Augenbrauen wackeln. „Wir sind hier kein Hotel, Mädchen." Dann dreht er sich um und verschwindet mit schlurfenden Schritten hinter der nächsten Biegung des Gangs.

Seufzend gebe ich der Tür einen kleinen Stups mit meinem Fuß und sie fällt knatternd zu.
Dann kämpfe ich mich aus meinem Kleid, bevor ich, in Unterwäsche bekleidet, ins Bett schlüpfe. Die Matratze ist hart wie ein Holzbrett und die Decke kratzig.
Mein Magen grummelt leise vor sich hin und das Bild meiner Eltern vor meinen Augen hält mich wach.
Das Anwesen um mich herum scheint lebendig zu sein, zu atmen. Ich höre das Knarzen von Holzdielen, das Knacken von uralten Rohren und ab und zu das Knarren einer Tür in naher Ferne.
Der Gedanke, dass ich komplett ungeschützt in meinem Bett liege, beunruhigt mich.
Eine gefühlte Ewigkeit liege ich wach, aber schließlich falle ich, trotz all der Sorgen, die auf meinen Brustkorb drücken, irgendwann in einen traumlosen Schlaf.


SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt