Messer zücken, Arm heben, zielen, werfen, schreien.
Es ist ein Rhythmus, meine Rufe erklingen im zehn Sekunden Takt. Obwohl mein Arm schmerzhaft kribbelt und meine Stimme heiser wird, mache ich weiter, solange bis ich alle meine Messer in der Rinde des Baums versenkt habe. Nur die Griffe ragen aus dem Holz wie die Stacheln eines Igels, bis ich sie der Reihe nach herausziehe und wieder von vorne beginne. Mein Kopf schmerzt bei jedem Wurf und vor meinen Augen flackert es leicht, weil ich vor lauter Konzentration nicht blinzle.
Messer zücken, Arm heben, zielen, werfen, schreien.
Als erneut das letzte Messer meine Hand verlässt und sich in die Rinde des Baumes bohrt, sinke ich zu Boden. Die Kraft verlässt mich und versickert gemeinsam mit meinen Tränen langsam in der feuchten Erde. Auch wenn die Versuchung groß ist, mich einfach zusammenzurollen und die Augen zu schließen, entscheide ich mich dagegen. Ich könnte es nicht ertragen, Arkyn vor meinen geschlossenen Lidern zu sehen. Arkyn, der seinen Blick über mein Gesicht wandern lässt, bevor er mich küsst. Arkyn mit den onyxfarbenen Augen, die im Kerzenlicht golden schimmern wie ein Teich aus flüssigem Honig. Arkyn, der mich immer noch ignoriert.
Ich beiße mir so fest wie möglich in die Hand. Schmerz ist immer noch besser als Kummer.
Es ist noch nicht einmal der halbe Tag rum, vor wenigen Stunde bin ich noch durch den Schattenwald geirrt und wünsche mir jetzt schon, endlich wieder ins Bett zu gehen und schlafen zu können. Meine Träume sind zwar zurzeit nicht gerade wunderschön, aber zumindest erträglich. Erträglicher als die Zeit, die ich zusammen mit Arkyn im Schattenwald verbringen muss. Ich will Abstand zu ihm gewinnen, kann es aber nicht, weil wir einen Auftrag zu erfüllen haben. Ich will ihn bitten, mit mir zu reden, weil wir Freunde sind, aber merke dann im selben Moment, dass diese Bezeichnung wohl kaum passend ist. Freunde küssen sich nicht und Freunde bekommen auch nicht Herzklopfen, wenn sie an den anderen denken.
Nach heute Morgen musste ich einfach in den Jagdwald. Ich musste meine Wut und meine Enttäuschung loswerden. Ich musste einen klaren Kopf behalten. Aber inzwischen bin ich zu erschöpft, um noch einmal aufzustehen, um die Messer gegen den unschuldigen Baum zu schleudern. Jetzt zeugen nur noch die Klingen in seiner weichen Rinde von meinem Gefühlsausbruch.
Ich sinke auf den kalten, feuchten Boden und warte bis sich die Nässe in meine Kleider frisst.„Clarice?"
Erschrocken springe ich auf – wo auch immer die Energie herkommt. Xanthio steht vor mir, die blonden Locken hängen ihm verwegen in die Stirn.
„Was ist denn bei dir los? Du warst nicht beim Mittagessen und irgendjemand meinte, dass du in den Wald gegangen bist." Seine Stimme klingt besorgt und als sein Blick auf die Messer fällt, die aus dem Baum ragen wie Nadeln, schluckt er.
„Mir geht's gut", lüge ich, aber es wirkt nicht sehr überzeugend. Meine Stimme ist brüchig, die Augen bestimmt gerötet vom Weinen und ich sitze am helllichten Tag am Waldboden herum und suhle mich in Selbstmitleid.
„Das war gelogen", füge ich überflüssigerweise hinzu und Xanthio hilft mir auf die Beine. „Das war mir schon bewusst." Er versucht die Messer aus dem Baumstamm zu ziehen und ruckelt unbeholfen daran herum. „Verletz dich nicht", kommentiere ich und eile ihm schließlich zu Hilfe.
„Wir beide müssen ein ernstes Wörtchen sprechen. So geht das nicht weiter mit dir, Clarice. Seit du im Rat bist – nun, eigentlich seit du diesen Auftrag im Schattenwald hast – bist du nicht mehr dieselbe."
„Der Auftrag wird bald beendet sein. Wir sind schon ziemlich nahe am Tor dran", werfe ich ein und packe die Wurfmesser in die Ledertasche, in der ich sie transportiert habe.
„Wirklich?" Xanthios Augen weiten sich vor Überraschung. „Ist ja krass."
„Müsstest du nicht bei der Arbeit sein?", lenke ich ab. Xanthio ist vielleicht weder mutig noch besonders stark, aber er hat – im Unterschied zur mir – wenigstens nicht zwei linke Hände. Bei den Handwerkern ist er perfekt aufgehoben.
„Ich muss heute nur mehr mit dem Umstellen der Bänke im Speisesaal helfen. Kommst du mit? Das wäre auch die perfekte Gelegenheit, um mit dir zu sprechen. Auch wegen diesem Typen." Verächtlich runzelt er die Stirn und nimmt mir die schwere Tasche ab.
„Sprichst du von Arkyn?", frage ich und versuche so etwas wie Unwissenheit in meiner Stimme mitschwingen zu lassen.
„Genau der", bestätigt Xanthio, während wir uns auf den Weg Richtung Schloss machen. „Dieser Arkyn" – er legt so viel Spott in seine Stimme wie nur irgendwie möglich – „ist nicht die Art von Person, mit der es gut Kirschen essen ist."
„Das weiß ich selber nur zu gut", seufze ich und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Nun ja, die Sache ist die – ich will dich ganz direkt darauf ansprechen, es lässt sich leider nicht vermeiden – du bist in ihn verliebt." Xanthios wissender Blick ruht auf mir und ich fühle mich, als würde ich von meiner Mutter mit peinlichen Fragen gelöchert werden.
Abwehrhaltung, schreit mein Gehirn, während mein Herz ein paar aufgeregte Hüpfer macht.
„Nur weil wir beide im Rat sind und viel Zeit miteinander verbringen, heißt das nicht, dass ich ihn in verliebt bin", winke ich ab und versuche verzweifelt, nicht rot anzulaufen.
„Ich habe ein gewisses Menschengespür", prahlt Xanthio und ich verdrehe spielerisch die Augen.
„Und der Grund, weshalb du im Wald am Boden herumgammelst und Messer gegen einen armen, unschuldigen Baum wirfst, ist, dass er dir das Herz gebrochen hat", endet er dramatisch und mustert jede kleinste Regung in meinem Gesicht.
„Hat er nicht", murmle ich, aber es wirkt nicht sonderlich überzeugend. Die Beweiskraft ist zu hoch und auch die Röte, die mir den Hals hinaufkriecht, ist mehr als verdächtig.
„Hat er doch. Erzählst du mir jetzt, was war oder nicht?", bettelt Xanthio, als wir aus dem Wald hinaus auf die Ländereien treten. In naher Ferne baut sich das Anwesen auf, die graue Fassade verschmilzt mit der Umgebung.
„Widerstand ist zwecklos?", frage ich gutmütig.
„Widerstand ist so zwecklos, wie deine Liebe an diesen Idioten zu verschwenden."
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Schattenmächte
FantastikClarice fiebert ihrem sechzehnten Geburtstag seit Wochen entgegen und nun ist es endlich soweit: Sie soll erfahren, welche Gabe sie besitzt. Als sie von der Königin zur Gabenenthüllung in den Palast gebeten wird, kommt jedoch alles anders als erwart...