Geständnisse

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Ich weiss, dass es extrem unangenehm wird. Aber für Sefer tue ich alles. Die Fahrt ist ruhig, im Hintergrund läuft leise meine Musik. Wir fahren an den Städten vorbei, Esslingen, irgendwann Plochingen, alles fliegt schon fast. Als ich die Ausfahrt von der Autobahn nehme, kralle ich meine Hände in das Lenkrad. "Also hier sind wir", sage ich eher zu mir als zu ihm, "Willkommen in meinem Kaff". Sefer schaut sich alles genau an. Ich parke auf einem Prakplatz und wir steigen aus. Ich Lotse ihn zu dem Hartplatz. "Das hier war mein Ort, wenn mir alles zu viel geworden ist." Erkläre ich ihm. Ich kletter auf ein Tor, er macht es mir nach. Wir sitzen schweigend da, ein kühler Wind geht durch unsere Haare. "Was zu viel geworden ist?", Fragt er dann vorsichtig. Ich hole tief Luft. "In meiner Familie ist oft viel schief gelaufen. Mein Bruder war von Anfang an schwierig, es wurde sich immer mehr um ihn gekümmert als um mich. Das war bis zu meinem 13 Lebensjahr nicht schlimm. Schön war es auch nicht, aber naja. Dann ist meine Oma an Krebs erkrankt und durch ihr Fehlen Zuhause ist die Demenz von meinem Opa unglaublich schnell fortgeschritten. Meine Mutter ist jedes Wochenende nach Frankfurt gependelt, um zu helfen. Dadurch sind psychische Probleme bei ihr aufgetreten, wodurch sie ab und zu zusammengebrochen ist. Wir hatten ab dem 14. Lebensjahr keine richtige Mutter mehr Sefer. Als meine Oma aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat sich meine Mutter entschieden die beiden hier in ein Pflegeheim zuholen. Für meine Oma war das bis zum letzten Atemzug schlimm, sie ist in Frankfurt geboren und aufgewachsen, hat ihr ganzes Leben dort verbracht. Als ob das nicht schlimm genug war, ist von heute auf morgen rausgekommen, dass mein Bruder suizidgefährdet ist, meine Eltern haben einen Abschiedsbrief gefunden. Und ab da war dann wirklich alles scheisse. Versteh mich nicht falsch Sefer, ich liebe meinen Bruder über alles, wirklich, aber es hat sich alles nur noch um ihn gedreht. Mein Vater hat mich einmal fast in ein Kinderheim gesteckt, wegen ihm, nur weil ich helfen wollte. Mein Bruder ist abgestürzt, hat angefangen viel zu trinken, dann kam Gras. Er hat sechs Joints pro Tag geraucht, hat angefangen Tilidin und andere Tabletten zu konsumieren. Teile durften natürlich auch nicht fehlen. Ich hab am Anfang probiert, ihn da raus zuholen, aber dann hab ich es gelassen. Ich hab keine Kraft mehr gehabt, verstehst du? Irgendwann war es für mich normal, ich hab auch angefangen zu kiffen. Zuhause war nicht mehr mein Zuhause. Ich wollte oft gar nicht dahin zurück, weil die Atmosphäre einfach am Arsch war. Alle haben sich nur gestritten. Meine Eltern und mein Bruder, ich war oben in meinem Zimmer und hab versucht zu lernen. Ich war nie eine große Intelligenzbestie Sefer, aber ich bin mir sicher, wäre der ganze Scheiss nicht so gekommen, hätte ich ein durchaus besseres Abitur schreiben können. Der nächste Hammer kam dann, als meine Mutter und mein Vater Streit hatten und rauskam, dass sie schon länger einen anderen hat. Das war ein Tag vor der Zeugniseröffnung. Sie hat ihre Sachen gepackt und ist einfach so gegangen. Hat mich im Stich gelassen. Mit einem Bruder der mich mehrmals am Tag mit dem Tod bedroht hat und einem Vater, der wegen irgendwelchen Erlebnissen in Kolumbien auch nichtmehr der zurechnigsfähigste ist. Es kamen immer mehr Details raus, mein Vater hatte meine Mutter schonmal betrogen und meine Mutter ist tablettenabhängig, will es sich aber nicht eingestehen. Unsere Familie war einfach am Arsch als ich 18 war. Mein Bruder hat getickt und mir war es scheissegal. Ich hab mich nur noch um mich selber gekümmert, weil es sonst niemand gemacht hat. Mein Opa ist am Tag meiner mündlichen Prüfungen gestorben, meine Oma danach. Ich habe diese zwei Menschen so sehr geliebt, das glaubst du mir nicht. Aber es war besser für die beiden, durch die Demenz sind sie zu anderen Personen geworden. Ich habe es nicht mehr ausgehalten und bin weg von hier, meine Freunde waren irgendwann dann gewöhnt dass es mir immer Scheisse ging, haben nicht mehr nachgefragt nichts. Die haben das sogar persönlich genommen, dass ich weg bin und Kontakt mit mir abgebrochen. Sefer in meinem Leben ist viel schief gelaufen und ich hab Angst, dass ich zu sehr an dir Klammere und mich zu sehr abhängig von dir mache. Das habe ich damals bei einem Jungen gemacht und das hat mich kaputt gemacht. Ich hab Angst, dass das hier irgendwann für uns beide durch mich unerträglich wird." Ich atme aus, geschafft. Sefer sieht mich lange an, sehr lange. "Warum hast du mir davon nicht früher erzählt?", Will er wissen. "Ich will nicht das Mädchen sein mit den vielen Problemen, dass nur Chaos und schlechte Stimmung bringt", antworte ich ihm ehrlich. Er schüttelt einfach nur den Kopf und geht dann runter vom Tor. Er fordert mich auf, dasselbe zutun. Als ich unten bin, nimmt er mich an meinen Händen und schaut mich lange an. "Für mich bist du vieles, du bist das Mädchen, mit den schönen langen braunen Haaren, du bist das Mädchen mit den interessanten, warmen braunen Augen, du bist das Mädchen, dass in mir Gefühle auslöst, wie keine andere es jemals geschafft hat. Aber du wirst nie das nervige Mädchen mit den vielen Problemen sein, verstanden?" Er nimmt jetzt seine Hände an mein Gesicht und sieht mich wieder lange an. Ich nicke langsam. "Aber was ist wenn-", setze ich an doch Sefer unterbricht mich, indem er seine Lippen auf meine legt. Ich bin erst überrascht, doch dann erwidere ich. Ich zittere während dem Kuss, mein Kopf ist leer, alles was ich gerade fühle ist ein Kribbeln und tausend kleine Stromschläge, die von unseren Lippen aus kommen. Niemand von uns beiden will, dass der Kuss endet, doch irgendwann lösen wir uns. Sefer legt seine Stirn an meine. Wir atmen beide schnell, die Dopamine sind in unseren Körpern am eskalieren. Sefer lächelt auf einmal, es ist ein seeliges Lächeln, nicht das jungenhafte Grinsen. "Was ist?", hauche ich leise. "Ich hab mich in dich verliebt", sagt er dann, immernoch mit einem Lächeln auf den Lippen. 

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