Kapitel 2.

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Ein gellender Schrei zerriss die friedliche Stille, in der die Kinder spielten. Er ertönte noch einige Sekunden lang, als er in den Straßen des Dorfes widerhallte. Erschrocken ließ Vitus den Ball fallen, den er in der Hand gehalten hatte, und die Mädchen, Neele, Aurelia und Lina, versuchten, sich hinter Jane zu verstecken. Alle drehten sich zum Wald um, aus dessen Richtung das Geräusch gekommen zu sein schien. Einige Sekunden lang, die wie eine Ewigkeit schienen, hörte man nichts außer brechenden Stöcken im Wald. Doch schließlich kam eine schemenhafte Gestalt aus dem Nebel getreten und rannte humpelnd auf sie zu, wobei er bei jedem Schritt mehr zusammenzubrechen schien. Nach einigen Hilferufen des Flüchtenden konnten sie ihn endlich erkennen; es war Hares, der Holzfäller des Dorfes. Jane schickte geistesegenwärtig Vitus los, Hilfe zu holen – denn der Holzfäller war sein Vater – und lief dem Verletzten entgegen. Vor Janes Füßen brach er in sich zusammen; über dem gesamten Körper verteilt trug er Kratz- und Bissspuren und tiefe Wunden, an denen er sterben würde. Die Kinder waren sich unschlüssig und blieben wie angewurzelt stehen, bis ihre Eltern, von Vitus geführt, herbeigeeilt kamen.

Hares hustete und rang kurz nach Luft, dann bedeutete er Jane mit einer schwachen Handbewegung, sich zu ihm hinunter zu beugen.

Zögernd kam sie der Aufforderung nach, bis ihr Ohr dicht an dem Mund des Verletzten war.

„Es waren viele. Ich konnte sie nicht sehen, aber sie haben mich angegriffen. Ich bemerkte es erst, als es schon zu spät war.", flüsterte er hektisch, wofür er seine letzte Kraft zusammenraffte.

Verständnisvoll nickte Jane. „Wölfe?", vermutete sie.

„Nein", antwortete er. „ Sie waren zu groß." Angsterfüllt starrte er sie mit aufgerissenen Augen an.

„Was war es dann?", fragte Jane erneut, obwohl sie schon wusste, dass er es ihr nicht sagen konnte.

„Nichts Normales." Antwortete er nur deutlich schwächer. Wahrscheinlich wollte er noch etwas hinzufügen, wurde jedoch von einem plötzlichen Husten unterbrochen. Langsam rutschte sein Kopf von Janes Beinen und er unternahm noch einen letzten verzweifelten, tiefen Atemzug, bevor er starb. Ein schwarz gekleideter Mann eilte herbei und prüfte den Tod des Mannes, während Jane von zwei weiteren von der Leiche weggezogen wurde.

Irgendwer aus der Menschenmenge war so klug gewesen, Vitus die Augen zuzuhalten und ebenfalls wegzutragen. Er wehrte sich hartnäckig dagegen, wollte seinen Vater sehen.

Während Jane von der Leiche entfernt und von der besorgten Bäckerin und ihrem Vater in Empfang genommenen wurde, verdeckten einige Männer der Stadt die Leiche mit einem Tuch und trugen sie in die Richtung der Kirche. Den Kindern wurden von ihren Eltern die Augen verdeckt und sie wurden weggetragen.

Sie sah nur noch im Vorbeilaufen, wie Darin Vitus beharrlich festhielt, bevor sie mit einer Schale voll Wasser auf eine der Bänke gesetzt wurde, welche auf dem Marktplatz verstreut standen.

Sie wurde sich der Situation erst richtig bewusst, als es erneut anfing, zu nieseln. Sie schlang sich das große rote Tuch, das sie vorher um den Kopf getragen hatte, eng um die Schultern und kauerte sich noch etwas länger auf die hölzerne Bank.

Sie waren größer gewesen, als Wölfe. Jane war ratlos.

Was waren das für Gestalten?

Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel.

Derek fürchtete sich nicht. Er durfte sich nicht fürchten, sie konnten die Furcht riechen, dessen war er sich sicher. Derek war Jäger, er musste das wissen, denn wenn er etwas nicht über Tiere wusste, wer sollte es dann wissen? Und als Jäger wusste er, dass alle wilden Tiere die Furcht riechen konnten. Und das war der Fehler des Holzfällers gewesen, er hatte große Angst gehabt, als er die Schemen gesehen hatte. Er hatte eine Axt dabei gehabt, aber die nutzte ihm nicht mehr viel. Und Derek saß auf einem Baum und hatte das Schauspiel beobachtet. Er hätte eingreifen sollen, das wusste er schon, als er den Gejagten an ihm vorbeirennen gesehen hatte. In seiner Erinnerung kam es ihm sogar so vor, als habe er ihn gar hilfesuchend angeblickt, obwohl Derek genau wusste, dass der Flüchtende nur auf den Boden vor sich geschaut hatte. Er schob die Fantasien auf die leichten Schuldgefühle. Aber hätte er geschossen, dann wäre er jetzt wahrscheinlich schon tot gewesen. Er musste eigentlich kein schlechtes Gewissen haben, schließlich musste er sich selber schützen. Doch Etwas störte ihn:

Er verbat sich jede Schuldgefühle, er war ja schließlich im Recht. Ihn störte etwas anderes. Eine tiefe Beleidigung an seiner Arbeit. Er wusste nicht, was das für Gestalten waren. Er, der Jäger, der oft mehrere Tage im Wald verbrachte, kannte sie nicht. Der Jäger hatte nicht gewusst, was er tun sollte, hätte gegen die Monster nichts ausrichten können. Dabei waren die Biester eigentlich nicht mehr als große wildernde Hunde, auf die er manchmal auch zum Spaß schoss. Sie sollten die Opfer sein. Und er der Jäger!

Vielleicht ließ er sich deshalb auf die unendliche Dummheit ein, vielleicht aber auch nur aus reiner Neugier, vielleicht wollte er auch selber, dass die Biester ihn töteten, nicht den dummen Holzfäller, der sich allenfalls am Waldrand herumtrieb. Der zu feige war, in den tieferen Wald zu gehen. Vielleicht wollt er der Held sein. Wenn auch der tragische Held. Vielleicht wollte er die Überlegenheit der Menschen über die Tiere demonstrieren.

Er war den viel zu großen Wölfen gefolgt. Wölfe hatten eine Heimat. Er wollte die Heimat der Wölfe herausfinden.

Das war jedenfalls der Plan gewesen.

Er fand die Wölfe. Der Nebel war dicht, er konnte nur Schemen erkennen, aber...

Derek stockte der Atem. Die Wölfe stellten sich nacheinander auf die Hinterpfoten, sodass sie schließlich aufrecht standen, wie Menschen. Derek schmiegte sich an einen dicken Baumstamm und war sich unschlüssig, ob er sich weiter verstecken oder näher heran wagen sollte. Bevor er sich jedoch für einen Plan entscheiden konnte, stießen die Gestalten ein mehrstimmiges, markerschütterndes Jaulen aus, welches Derek wie eine Statue erstarren ließ. Schließlich zerstreuten sich die Gestalten. Sie schlichen oder rannten jeweils in verschiedene Richtungen davon, doch keiner von ihnen kam in Dereks Blickfeld. Genauso bemerkten auch sie nicht den heimlichen Beobachter. Es waren neun oder zehn, er war sich nicht sicher, doch so viel konnte er etwa ausmachen.

Derek bemerkte, dass die Sonne in der nächsten Stunde aufgehen würde. Er wartete ab, bemüht, keine Geräusche von sich zu geben. Doch als der Nebel sich mit den ersten Sonnenstrahlen endlich lichtete, war von den Biestern keine Spur mehr zu entdecken. Zurück blieb ein seltsamer Steinkreis, der eine gefährliche Aura ausstrahlte, welche Derek auf dem schnellsten Wege ins schützende Dorf zurückeilen lässt.

Der Jäger ließ den Steinkreis nicht aus den Augen, während er sich rücklings durch den dichten Wald kämpfte, bis dieser aus seinem Blickfeld verschwand. Er merkte sich den Weg zurück genau. Keine Wölfe fielen in seinen geschulten Blick, während er seine ängstlichen Blicke zwischen den Baumstämmen umher streifen ließ. Doch auch keine Rehe, Wildschweine... Derek gab seinen müden Augen und wirren Gedanken die Schuld. Doch er wusste, was er vorher gesehen hatte. Es waren Menschen! Er wusste nicht, wie sie sich als übergroße Wölfe tarnen konnten, aber eins war ihm klar: Diese Biester hatten sich in das Dorf eingeschlichen und lebten mitten unter den Bürgern.

Er würde sie finden.

Derek würde der Held sein!

Die Werwölfe von DüsterwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt