Kapitel 20.

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Den gesamten Tag über irrte Nils nur gedankenverloren durch die Gassen der Stadt. Er musste nachdenken. Hatte er seine beiden Brüder getötet? Es waren zwar die Werwölfe gewesen, aber... Nils hatte sie doch erst nach draußen gelockt... Nachts...

War Nils ein Mörder? Jedenfalls war es seine Schuld gewesen und er musste etwas tun! Er musste dafür sorgen, dass die Werwölfe nie wieder einen unschuldigen Bürger töteten!

Er brauchte Hilfe!

Er kletterte über einen Holzzaun auf das erstbeste Dach hinauf. Es war immer noch etwas ungewohnt, auf den roten Ziegeln zu stehen und er musste sich sehr vorsichtig bewegen, um nicht das Schrägdach hinunter zu fallen. Ein bisschen Höhenangst hatte er auch, als er umständlich auf den Ziegeln zu gehen versuchte, aber irgendwie schaffte er es dann zu einem Schornstein. Ein bisschen unwohl war ihm schon, als er sich auf die Kante setzte und er musste kurz sitzen bleiben und nachdenken. Sollte er sie fragen? Es wäre schon eine gute Idee, sie wusste doch sicher, was zu tun war. Das wusste sie immer. Aber sollte er Neele auch noch in Gefahr bringen? Nein, sie würde nicht in Gefahr sein, nicht Neele. Neele war schlau genug, um nicht in Gefahr zu sein. Nils konzentrierte sich.

Er sammelte seine verbliebenden Kräfte und schrie, so laut er konnte, nach seiner Freundin.

Einige Menschen auf dem Dorfplatz drehten sich um und erkannten ihn trotzdem nicht auf dem Ziegeldach, sie mussten auch genau in die untergehende Sonne blicken um ihn zu sehen, aber Nils war sich sicher, Neele hatte ihn gehört. Neele hörte und sah alles.





Er hatte Recht. Das Mädchen hörte alles.

Und Neele hörte auch den Ruf.

Den ganzen Tag über, mehrere Stunden lang hatte sie nur neben dem Dieb gesessen, nur wegen dieser einen Frage. Sie stand unausgesprochen zwischen den beiden.

Warum?

Warum arbeitete er mit den Werwölfen zusammen? Warum störte es ihn nicht, dass Menschen starben? Warum hatte er den einzigen Vorteil, der für ihn aus einer solchen Beziehung entstand, erkannt und voll ausgeschöpft. Wieso ging es ihm nur um das Geld?

Die unausgesprochenen Fragen hatte er ebenso beantwortet.

Wegen dem Geld.

Der Dieb wollte das Geld und er wollte überleben.

Neele hatte kein Wort mit ihm gewechselt, wie jeden Abend, an dem sie sich sonst auf den Dächern trafen. Ganz flüchtig und mit gesenktem Blick. Neele hatte einfach geschwiegen. Der Dieb hatte geschwiegen.

Dann wurde sie gerufen.

Neele sprang sofort auf und ließ den Dieb allein in seiner Nische zurück. Wortlos, wie immer.

Sie kletterte eine unebene Hauswand empor und hielt gebannt Ausschau. Woher kam der Ruf? Sie beschloss, zum Marktplatz zu gehen, wo sie besser sehen konnte, und dort nach ihrem Rufenden zu suchen.

Das kleine Mädchen konnte sich zwischen Schornsteinen, Zäunen, Mauern und dünnen Spalten zwischen Häusern schlängeln, wobei sie immer Ausschau nach den Werwölfen und dem Schreienden hielt.

Sie zwängte sich einen Schornsteinschacht hinauf und blieb einige Minuten erschöpft auf dem Dach liegen und lauschte. Der Ruf hatte sich noch öfters wiederholt, wie ein Echo in dem langsam schlafenden Dorf und kam immer näher. Sie war auf der richtigen Spur. Aber vom Marktplatz noch weit entfernt.

Die Kirche war sehr nah. Der Priester ließ gerade die Glocke läuten, die Nacht ankündigend. Neele musste sich vorsichtig bewegen, die Werwölfe würden jeden Moment auf die Jagd gehen.

Neele kämpfte sich auf. In der letzten Woche hatte sie nur wenig geschlafen, aber das durfte sie jetzt nicht abhalten! Sie durfte nicht schlafen! Dann hätten die Werwölfe gewonnen und sie wäre verloren!

Alles in ihr sträubte sich und wollte sich wieder hinlegen und endlich schlafen, aber sie kämpfte sich voran, sprang etwas zu laut zu einem anderen Dach hinüber, bevor sie sich selbst dazu bewegen konnte, leise zum Marktplatz zu klettern.

Ein letztes Haus musste sie erklimmen, bis sie schließlich den Marktplatz vor sich liegen sah. Einen Moment lang ließ sich die Müdigkeit wieder spüren, dann erinnerte sie sich, wieso sie hergekommen war.

Sie schaute sich um und erkannte ihn sofort.

Im Zwielicht stand dort Nils und winkte ihr zu. Sie winkte kurz zurück. Sie wollte über die Dächer zu ihm hinüber steigen, doch dann entschied sie sich dagegen. Es würde viel länger dauern. Nils stand am gegenüberliegenden Ende des Platzes und wartete. Einfach über den Marktplatz zu laufen wäre viel schneller!

Kurz sah sie sich um, konnte aber keine Werwölfe entdecken. Sie hatte sie die ganze Nacht schon nicht gesehen.

Vorsichtig stieg sie vom Dach herunter. Nur ein paar Sekunden, wenn sie lief. Von einer plötzlichen Entschlossenheit ergriffen stieß sie sich von der Haus wand ab und rannte so schnell sie konnte zu ihrem Freund.

Es fühlte sich so leicht an, einfach über den Boden zu laufen und Neele fühlte sich plötzlich so erlöst.

Sie schaute zu Nils hinauf und auch er freute sich mit ihr.

Dann sah sie ihn erneut an und las Schrecken auf seinem Gesicht. Kurz dachte sie über den Grund nach, doch gerade, als sie an ihrem Ziel, der Hauswand, angekommen war und sie erklimmen wollte, hörte sie hinter sich ein verstimmtes Knurren und spürte, wie sich Krallen in ihre Schulter eingruben.

Dann spürte sie nichts mehr.

Sie konnte endlich für immer schlafen.

Die Werwölfe von DüsterwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt