Kapitel 3

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Er hatte es geschafft. Nicht mit roher Gewalt, sondern mit Überredungskunst und vielem hartnäckigem Festhalten, aber nicht brutal, sondern sanft. Irgendwie ungewohnt. Vitus wusste, dass sein Vater tot war. Er wollte ihn noch einmal sehen, hoffend, dass er noch lebte. Aber nun wusste er es. Und er hatte sich damit abgefunden, ziemlich schnell sogar. Die Vergangenheit voller Alkohol und Gewalt hatte ihn den alten Mann beinahe schon hassen gelehrt. Beinahe. Diese Nacht war er noch einmal in seinen Träumen erschienen, während er an der Seite seines neuen Freundes geschlafen hat; auch in den nächsten Nächten würde er da sein, aber er hatte dafür Darin gefunden.

Darin, der sanfte Flötenspieler, der die Geduld nicht mit ihm verloren hatte, als er ihn stundenlang von seinem Vater fernhalten musste. Darin, der sein Freund war. Obwohl sie sich erst seit einigen Stunden kannten. Vitus war bei dem netten Mann eingezogen. Da seine Mutter bereits vor Jahren gestorben war, hatte Darin den Jungen sofort bei sich aufgenommen. Darin hatte kein Zuhause, aber das brauchte er auch nicht. Vitus lebte trotzdem gerne bei ihm, auch, wenn es nur auf Bäumen war. Manchmal auch im Gras. Was sollte er auch sonst machen? Es war ja nur noch Darin da und Darin reichte auch aus.

Sie saßen auf Holzkisten, unter dem aus Stöcken zusammengebastelten Dach. Darin erklärte Vitus, wie man Geige spielte. Sie hatten dies die gesamte Nacht lang getan, seit Vitus schreiend aus einem Alptraum erwacht war. Es machte ihm Spaß, Darin zwang ihn nicht zum richtigen Spielen, wie sein Vater es getan hätte, hätte dieser überhaupt etwas von der Musik gehalten, sondern führte ihn in einzelne Töne ein, bevor er ihn improvisieren ließ. Vitus war stolz auf die nicht ganz sauberen Töne, aus denen er eine schöne Melodie formte. Darin nahm eine Flöte zur Hand und zeigte ihm die Noten. Am Morgen war Vitus so vertieft in das Geigenspiel, dass er den Jäger, der auf dem Marktplatz alle Bürger zusammen rief, erst bemerkte, als Darin ihn auf ihn aufmerksam machte. Beide legten ihre Instrumente zur Seite und gingen auf den aufgeregten Jäger hinzu, um den sich bereits eine große Menge versammelt hatte – die meisten blieben jedoch nur kurz stehen und schritten kopfschüttelnd weiter.

„Sie leben in Rudeln, mitten im Wald! Zehn verdammte Biester! Im Schutz des Nebels, damit niemand sie sieht, verwandeln sie sich!" – dies war das Erste, was die beiden mitbekamen.

Ein Raunen ging durch die Menschen. Einige Frauen erschraken und diskutierten verängstigt. Irgendwer fragte Derek, was er denn mit verwandeln gemeint hätte.

Jemand neben Vitus flüsterte, der Jäger wäre verrückt geworden.

„Es sind Menschen.", antwortete dieser. Einige lachten hämisch. Als Vitus zu seinem Freund herauf schaute, konnte er Unschlüssigkeit erkennen. Der Flötenspieler wollte den Jäger nicht wie die anderen sofort verurteilen. Vitus wollte sich daran ein Beispiel nehmen.

„Ich habe es selbst gesehen!", rief Derek, als er bemerkte, dass kaum jemand ihn wirklich ernst nahm.

„Es sind Menschen!" rief er noch einmal leiser, verzweifelt, während alle anderen Bürger kopfschüttelnd weggingen.

Vitus glaubte ihm. Darin tat dies nicht, doch wollte Derek weiter zuhören. Sie blieben vor dem Jäger stehen, bis die meisten anderen weggingen. Am Schluss blieb noch eine kleine Gruppe Menschen übrig, die Derek wirklich jedes Wort glaubt.

Vitus sah sich um. Neben der Bäckerin, die ihm immer Brot geschenkt hatte, sah er noch Jason, Loki, Arduin und den alten Bürgermeister. Neben dem stand wie immer der Büttel.

Weißes Haar, das aussah, wie eine Perücke neben dem pechschwarzen des Büttels. Der kleine, dicke Bürgermeister, mit dem runden, freundlichen Gesicht, neben seinem schlanken, großen und kantigen Schatten.

Sie machten besorgte Gesichter. Das war verständlich, denn im Grunde teilte der Jäger ihnen immer wieder die gleiche makabre Nachricht mit:

Die Wölfe sind nicht nur riesig, sondern es sind Werwölfe, die in ihrem Dorf lebten und nur darauf warteten, nacheinander über alle herzufallen. Als wären die Wesen direkt aus den Märchen, die man beim Feuer erzählte, oder den Geschichten einer Mutter für ihr Kind entsprungen. Außerdem wusste niemand der Bürger, wer sie waren. Jedem war klar, dass das Dorf daran zugrunde gehen würde, wenn der Jäger Recht behalten sollte. Wenn das Volk davon erfuhr, würden sie sich alle gegenseitig anschuldigen. Sie würden nicht mehr ihrem eigenen Vater über den Weg trauen.

Sie durften das nicht zulassen.

Der Büttel rief pflichtbewusst zur Ruhe auf und zog den Bürgermeister für Beratungen zur Seite, nachdem die Traube sich aufgelöst hatte.

Es war ein Morgen, wie jeder Morgen. Neblig und kalt. Jane lag ausgestreckt auf ihrem Stein in der Kälte, während alle um sie herum ihren Arbeiten nachgingen. Bis auf den Jäger, der sich auf eine große Kiste gestellt und etwas ausgerufen hatte. Am Anfang hatte sie ihm noch zugehört, bis er anfing, immer wieder dasselbe zu erzählen.

Es war nun nicht so, dass sie ihm nicht geglaubt hätte, sie konnte es sich nur nicht vorstellen. Wahrscheinlich hatte er nur Bäume im Nebel gesehen, dachte sie. Die Weiden konnten müden Augen schon mal etwas vormachen. Er war kein Lügner, auch kein Verrückter, das konnte jedem einmal passieren, in der Angst.

Sie hatte keine Angst, es waren nur Wölfe. Auch der Holzfäller hatte übertrieben, er war in Lebensgefahr gewesen, wahrscheinlich kamen sie ihm deswegen so groß vor. Auch normale Wölfe konnten einen Menschen schon mal töten.

Der Jäger hatte ihm nur geglaubt und dachte gleich, es wäre etwas Unnatürliches. Deshalb hatte er geglaubt, zu sehen, dass sie sich in Menschen verwandelten.

Da war nichts Schlimmes dran, sie konnte die Irrtümer gut nachvollziehen.

Aber das änderte nichts daran, dass es nur ein Rudel Wölfe war, das ihre Heimat vor dem Holzfäller schützen wollte, der ungewöhnlich tief in den Wald gegangen war. Tragisch, aber komplett normal. Das einzig Unnatürliche war, dass der Holzfäller einmal mutig genug war, den Wald zu betreten, statt nur am Rand seine Bäume zu fällen.

Ihr Vater machte sich wie immer zu viele Sorgen um sie. Sie war sich sicher, dass die Tiere niemals ins Dorf gelangen würden. Wieso schließlich sollten sie dies überhaupt wollen, wenn ihre Heimat so tief im Wald war?


Die Werwölfe von DüsterwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt