Kapitel 6.

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Sie hatte sie gesehen.

Vielleicht war es falsch gewesen, nachts auf die Straße zu gehen, aber sie war schließlich vorsichtig gewesen. Sie war ihnen gefolgt, sie hatte sie gesehen.

Sie wusste es.

Und sie wussten es auch.

Vielleicht war sie nicht vorsichtig genug gewesen, als sie den Jäger getötet hatten. Vielleicht war es nicht unauffällig gewesen, sondern einfach nur kindisch.

Sie würden sie jagen. Jetzt, wo sie es wusste, würden sie alles daran setzen, dass sie ihr Geheimnis nicht weitererzählen konnte.

Neele musste sich verstecken.

Die Werwölfe würden sie sonst finden, das wusste sie genau. Sie wusste allgemein sehr viel.

Sie wusste, wer die Werwölfe waren. Sie hatte sie verfolgt. Bis in den Wald hinein. Sie fühlte sich so unauffällig, wie sie sich hinter Bäumen versteckt, in Büsche gekauert, durch die Zweige gespäht hatte. Sie wäre unauffällig gewesen, hätte nur nicht die Neugier sie dazu gedrängt, ihnen bis zum Ort des Mordes zu folgen.

Und wegen der Neugierde würde sie sterben müssen.

Eins war nun sicher: Wem sie nicht trauen konnte. Doch wenn sie sterben sollte, so musste Neele zumindest die Identitäten der Wölfe enthüllen. Wenn sie auch nicht alle ausmachen konnte.

Das Mädchen konnte sich noch in einem Haufen, der aus einem Gemisch aus Kuhmist und Stroh bestand, verstecken, sodass die Wölfe die Suche schnell aufgaben. Doch brauchte sie ein besseres Versteck. In den nächsten Nächten würde sie die Gejagte sein.




Jane war ängstlicher als an normalen Tagen. Heute war auch kein normaler Tag, alles schien düsterer. Die Sonne hatte sich erst spät aus dem schützenden Versteck der fernen Berge getraut und bedeckte sich seitdem mit Wolken, als hätte sie selbst Angst, von den nächtlich umherwandernden Gestalten als Opfer erkannt zu werden. Der so gewohnte Geruch nach Brot blieb aus. Die Kinder blieben zuhause oder an der Hand besorgter Mütter, während diese einkauften, wie jeden Tag.

Auch, wenn das Flötenspiel fröhlich klingen sollte, so kam es doch Jane wie ein Trauermarsch vor. Der Dorfdepp wagte keinen Witz und auch ansonsten verblieben die Bürger in trauernder Stille. Die Nachricht eines weiteren Toten war am frühen Morgen ausgerufen worden. Derek, der Jäger, spielte die Rolle des Toten.

Finn wurde vermisst. Die Nachricht hatte Jane am gestrigen Abend erreicht. Seine Mutter machte die Sorgen krank.

Jane wusste nicht mehr, woran sie glauben sollte – und das verursachte ihre Angst. Jede Nacht verschwand ein Bürger oder wurde tot aufgefunden. Sie machte sich keine Sorgen darüber, vielleicht das nächste Opfer zu werden. Denn dies war schon sehr unwahrscheinlich. Doch dass niemand wusste, wer des Nachts sein Unwesen trieb, verunsicherte sie. Menschen, die in Panik lebten, waren meistens gefährlicher als die Gefahr selbst. Dabei war es doch so einfach. Die Devise war, nachts das Haus nicht zu verlassen. Die unvorsichtigen Bürger fielen dem wilden Instinkt der Tiere zum Opfer. Hares, Finn und jetzt auch noch Derek. Sie waren einfach nur unvorsichtig gewesen. Wenn sie sich nachts auf den Straßen herumtrieben, waren sie selbst schuld.

Derek wurde ordentlich bestattet, aber das war reine Formalität. Nach der Trauerfeier wollte niemand mehr etwas mit dem Jäger zu tun haben. Jane stand am Grab. Sie war alleine, Derek hatte keine Familie gehabt; Seine Frau war bereits vor drei Jahren gestorben, sie lag direkt neben ihm begraben. Kinder waren ihnen nicht vergönnt. Jedem im Dorf war der Jäger unsympathisch, sein Charakter war schlichtweg hässlich. Genauso bei seiner Frau. Damals. Aber die Toten soll man ehren.

Jane sah es als ihre Pflicht, zumindest einige Minuten des Jägers zu gedenken. Doch je länger sie an den Mann dachte, desto mehr schlechte Eigenschaften fielen ihr ein. Also beließ sie es schließlich dabei, vor seinem Grab zu beten, und kehrte so erst am Nachmittag zum Marktplatz zurück, nachdem sie die Blumen auf dem Grab ihrer Mutter mit Wasser verwöhnt und auch für sie kurz gebetet hatte.

Die Menschenversammlung, die sich mitten auf dem Platz gebildet hatte, war nicht zu übersehen. Sie hatte sich um die hölzerne Tribüne versammelt, welche für wichtige Gesetze, Warnungen und sonstige Nachrichten genutzt wurde. Verunsichert wurde sie langsamer und fing an, Gesichter in der Masse zu suchen, die sie nach den neuesten Ereignissen fragen könnte.

So eine große Versammlung konnte nie etwas Gutes bedeuten.

Ciwan, der Dorfdepp, stand ganz hinten und tat so, als würde er durch die vielen Rücken genau alles erkennen können. Dabei hielt er sich die Hand wie zum Schutz vor der Sonne über die Augen und begutachtete die Hinterseite seines Vordermannes und machte staunende Geräusche. Während Jane ihren Blick durch die Menge schweifen ließ, erblickte er sie. Der auffällig gekleidete Mann sprang seitwärts auf sie zu und kam unangenehm nah vor ihr zum Stehen, sodass Jane leicht schmunzelnd einen Schritt Abstand nehmen musste.

„ Tot!", trällerte Ciwan in gewohnt heiterem Ton. „Erschossen!". Einige Sekunden brauchte Jane, bis sie ein ersticktes „Wer?" aus ihrer Kehle presste.

„Der Werwolf!". Seine Stimme erreichte Höhen, die Jane nicht hätte übertreffen können. Er lächelte zufrieden und machte keinerlei Anstalten, seine Nachrichten weiter auszuführen.

Auf einer Trage schleppten ein paar starke Männer eine Person aus dem Kreis, den die Menschen bildeten. Diese gingen in respektvollem Abstand hinterher.

„Sie mag ja friedlich aussehen, aber wir alle wissen, wie das kam.", hauchte die Stimme des Dorfdeppen an Janes Ohr. Sie ignorierte ihn, komplett auf das Erkennen der Leiche konzentriert. Sehr schnell zog die Traube vorbei und Jane sah auch keinen Grund, dieser zu folgen.

Sie hatte bereits das liebe, runde Gesicht der alten Bäckerin erkannt, welche nun tot zur Kapelle getragen wurde und Jane und Ciwan alleine zurück ließ.

„Beim Zerfleischen hat sich ein Schuss gelockert!", erzählte Ciwan weiter, ohne eine Spur von Trauer in der Stimme zu tragen. Er klang überzeugt, als wenn er selbst dabei gewesen war. Ein Kichern mit hoher Stimme tönte über Janes Kopf hinweg. Wütend über die Verspottung der netten alten toten Dame schlug Jane nach ihm, verfehlte ihn aber nur um ein paar Zentimeter, als er mit einem Satz nach hinten und ausgebreiteten Armen auswich. Als Jane sich wieder zu ihm umdrehte, schaute sie plötzlich in ein todernstes Gesicht. Ruhig und mit einem bedrohlichen Unterton erklärte er: „Wegen Leuten wie dir werden wir diese Unmenschen niemals besiegen können."

Ebenso abrupt kehrte ein wohliges Lächeln auf sein Gesicht zurück und er klopfte Jane auf die Schulter, wie ein Vater es tat.

Eine einzige Nachricht war an dem Pfahl auf der hölzernen Tribüne angebracht. Sie stammte vom Büttel. Er betonte, man solle sich keine Panik machen. Und bestätigte, dass in dem Gewehr des Jägers ein einziger Schuss fehlte.

Die Werwölfe von DüsterwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt