»Ist alles in Ordnung, mein Kind?«
Jemand rüttelt mich an der Schulter.
Mein Kopf liegt im Gras. Ich habe kauernd die Arme um mich geschlungen und meine Knie angezogen. Kalte Luft umgibt mich. Mein Körper zittert unaufhaltsam.
Mühsam öffne ich die Augen. Eine ältere Frau beugt sich über mich und sieht mir voller Sorge ins Gesicht.
Ich setze mich auf, wodurch ich sofort wieder von der Kälte durchbohrt werde.
Es ist mittlerweile dunkel geworden. Einzig der Mond und einige flackernde Laternen geben noch ihr Licht ab. Wie viele Menschen wohl schon an mir vorbeigegangen sind ohne etwas zu tun, ohne mich überhaupt zu bemerken.
Allmählich wandern die Ereignisse, die ich in den letzten Stunden zu verdrängen versucht habe, wieder zurück in mein Gedächtnis.
Der Schmerz. Alex, der mich im Stich lässt. Die Leere. Die Taubheit. Und die Dunkelheit.
Ich setze mich stöhnend auf. Der feuchte Boden hat meinen Gliedern nicht gutgetan, ich kann jeden einzelnen meiner Knochen spüren.
»Dankeschön«, sage ich zu der netten Frau, die mir als einzige geholfen hat und gehe humpelnd zu unserer Wohnung zurück.
»Soll ich jemanden benachrichtigen?«
»Nein, schon gut. Danke«
Ich schiebe kraftlos die Tür hinter mir zu und gehe auf direktem Weg in mein Zimmer. Vorbei an den Scherben, die immer noch am Boden liegen.
Im Moment ist mir alles egal. Die Verbrennung an meinem Arm, der Bluterguss an meiner Seite, sogar Zed ist mir im Moment gleichgültig und ich habe die Vermutung, dass dieser Moment lange anhalten wird.
Ohne mir den Dreck vom Körper zu waschen oder mich umzuziehen, lege ich mich ins Bett und ziehe die Decke bis zu meinem Kinn hinauf. Es dauert eine ganze Weile bis ich mich unter der Decke wieder erwärmt habe.
Mein Wecker klingelt.
Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Was ich getan habe? Nichts. Woran ich dachte? Nichts. Was ich fühlte? Nichts. Dieses eine Wort hat mit einem Mal die Macht mein komplettes Leben zu beschreiben.
Ohne Zed Frühstück zu machen, verlasse ich die Wohnung und mache mich auf den Weg zur Schule. Wie betäubt sitze ich im Unterricht. Zwar kann ich die Stimmen der Menschen um mich herum hören, ihre Worte aber ich nicht greifen. Sie schweben irgendwo in der Luft, doch ich komme nicht an sie heran.
Die Stunden ziehen wie im Flug an mir vorbei und ehe ich mich versehe, ist die Schule schon wieder zu Ende.
Und Alex? Alex ist fort, untergetaucht. Ich habe seit diesem Vorfall gestern nichts mehr von ihm gehört. Ich will auch nichts mehr von ihm hören. Am besten nie wieder.
Ich kann fühlen, dass irgendetwas in mir gestorben ist, als Alex mir den Rücken kehrte. Etwas tief in meinem Inneren, von dem ich nicht einmal wusste, dass es da ist. Etwas so Tiefes und Reines, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich weiß nur, dass ich es bereits schrecklich vermisse.
Alex hat ein Stück meiner Selbst mit sich genommen und mich wie eine leere Hülle liegen gelassen. Auf der Straße. Welcher Freund tut sowas? Welcher Mensch ist in der Lage einem Menschen, den er liebt, so etwas anzutun? Ihn hilflos, weinend, verzweifelt auf der Straße liegen zu lassen.
Nach der Schule gehe ich in den Park, wie üblich. Ich suche eine freie Stelle unter einem Baum und setze mich ins Gras. Dort krame ich meine Kamera aus der Tasche und richte sie auf ein junges Mädchen, das mir gegenüber auf einer Parkbank sitzt und liest. Ich sehe ihr zartes Gesicht auf dem winzigen Monitor meiner Kamera und halte inne. Ihre Ausstrahlung, das leichte Lächeln auf ihrem Gesicht, der sorgfältig geflochtene Zopf ihrer blonden Haare... alles an diesem Mädchen hätte mich wehmütig gemacht und mich in sehnsüchtige Tagträume purzeln lassen.

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SOPHIE (Band 1)
FantasySophies Leben glich einem Traum bis ihre Mutter starb und ihr Vater, vor Trauer geblendet und gebrochen, anfängt sie zu schlagen. Das einzige Beständige, das sie noch auf den Beinen hält, ist ihr Kindheitsfreund Alex, mit dem sie alle Schwierigkeit...