Kapitel 2

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»Phie!«, ruft Alex von der gegenüberliegenden Straßenseite und winkt mich zu sich. Ich werfe ihm ein gequältes Lächeln zu und versuche möglichst aufrecht zu ihm zu gehen. Die Schmerzen sind zwar ein bisschen besser geworden, doch trotz des starken Schmerzmittels kann ich sie bei jedem Schritt spüren. Das Gewicht des Rucksacks auf meinem Rücken hilft mir auch nicht wirklich. Alex lässt die Hand sinken und mustert mich fragend.

»Geht es dir gut? Du siehst ganz schön scheiße aus...« Er hebt die Augenbrauen und blickt mir etwas besorgt entgegen. Ja, mein äußeres Erscheinungsbild gibt heute nicht viel her, aber jeder hat doch mal einen schlechten Tag... oder tausende.

»Bist du verletzt? Es wirkt irgendwie so als...«

»Mir geht's gut!«, unterbreche ich ihn und versuche möglichst überzeugend zu lächeln. »Ich bin heute Morgen die Treppen runtergefallen, das ist alles.« Ich zucke lässig mit den Schultern und wende beschämt den Blick ab. Jede Lüge, die ich Alex auftischen muss, ist wie ein weiterer Schlag in die Magengrube, doch es führt leider kein Weg daran vorbei. Ich habe schon lange aufgehört mir ein schlechtes Gewissen deswegen einzureden. Er kommt direkt auf mich zu und schließt mich in seine starken Arme.

»Guten Morgen, Tollpatsch«, flüstert er mir ins Ohr.

»Guten Morgen, Muskelprotz!«, erwidere ich lachend. In den letzten Monaten hat er sich sehr verändert. Er trainierte regelmäßig und verwandelte sich schließlich von dem dürren, schlaksigen Jungen in einen starken, muskulösen und wirklich heißen jungen Mann. Ich atme seinen süßen und unverkennbaren Duft ein und lasse mich von ihm in die Arme schließen. Alex und ich lernten uns schon im Kindergarten kennen und sind seitdem unzertrennlich. Wir gingen gemeinsam durch dick und dünn und erzählten einander einfach alles, zumindest bis zu dem Zeitpunkt als vor sieben Jahren meine Mutter starb und aus meinem Vater dieses Monster wurde.

Bis ich zehn Jahre alt war, waren wir – man glaubt es kaum – eine ganz normale und wirklich glückliche Familie. Doch an dem Verlust von Mom zerbrach Zed und fing an seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Mit dem ständigen Rausch kam auch die Brutalität. Immer öfter kam es vor, dass ich ein blaues Auge oder eine andere Verletzung davontrug. Von da weg fing ich an, Alex eine Lügengeschichte nach der anderen aufzutischen. Außerdem drohte Zed damit alle, denen ich es sage, umzubringen und das würde ich ihm inzwischen sogar zutrauen.

Das ist der Grund weshalb ich es Alex nicht sagen kann. Ich will nicht sein Leben aufs Spiel setzen, nur um mich auszuweinen. Es hilft nichts, da muss ich nun mal alleine durch!

Langsam ziehe ich mich wieder zurück, da diese Position gegen meine schmerzenden Rippen stößt. Ich presse meine Lippen aufeinander und habe plötzlich einen metallischen Geschmack im Mund. Blut. Anscheinend hat die Stelle, an der ich mir wegen Zeds Schlägen die Lippe aufgebissen habe, wieder zu bluten begonnen. Schnell drehe ich mich von Alex weg und fahre mit den Fingern über die offene Haut, wobei ein kleiner Blutstropfen an meinen Fingerspitzen hängen bleibt. Ich krame aus meinem Rucksack ein Taschentuch hervor und drücke es mir auf die blutige Stelle.

»Hast du dir schon wieder die Lippe aufgebissen?«

»Ja, du kennst mich doch...« Ich lache nervös und sehe einen roten Fleck auf dem Taschentuch in meiner Hand.

»Wann wirst du wohl endlich aufhören, auf deiner Lippe zu kauen?«, fragt er vorwurfsvoll und streckt mir eine kleine Tube Lippenbalsam hin.

»Danke«, murmle ich und creme mir die schmerzende Lippe ein.

»Sag mal... Wo habt ihr in eurer Wohnung eine Treppe?«, fragt Alex zögerlich. Ich spüre wie eine nervöse Hitze meinen Körper heimsucht, während er mich misstrauisch anstarrt.

SOPHIE (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt