Kapitel 6

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»Nein! Alex! Komm zurück!«

Ich reiße die Augen auf und sitze aufrecht im Bett. Mein Gesicht ist von Tränen überströmt und mein Puls geht doppelt so schnell wie gewöhnlich. Das weite T-Shirt, mit dem ich schlafe, ist schweißgebadet und schon wieder zittere ich am ganzen Körper. Ich schließe die Augen und atme tief durch, um mich wieder zu sammeln. Alex kommt nicht zurück. Er hat mich aufgegeben. Er hat uns aufgegeben.

Obwohl es mitten in der Nacht ist, schaffe ich es partout nicht, noch einmal einzuschlafen. Genervt stehe ich auf und ziehe mich an.

Da ich mich heute nicht schon wieder mit Zed herumschlagen will, der sich mit mir um den Kaffee oder mein Aussehen streitet, schnappe ich meine Tasche und verlasse die Wohnung.

Draußen ist es stockfinster und so kalt, dass ich meine Weste enger um meinen Körper schlingen muss. Aus meiner Tasche hole ich die Trinkflasche von gestern, in der noch etwas Wasser ist und meine Tablettenschachtel, die schon bald wieder leer ist. Ich drücke mit immer noch zitternden Fingern gleich zwei Tabletten heraus und schlucke sie mit dem übrigen Wasser. Bald darauf setzt auch schon die Wirkung ein und lässt mich wieder durchatmen. Ich ziehe meine Weste noch fester um mich und mache mich auf den Weg zur Schule.

Der kalte Frühlingswind fährt mir durch die Haare und peitscht mir ins Gesicht. Die kühle und feuchte Luft tut meinem verschwollenen und geschundenen Gesicht unglaublich gut.

Um 4:30 Uhr stehe ich vor unserer Schule. Die Sonne ist noch lange nicht aufgegangen, also setze ich mich im Dunkeln auf die Steinstufen, die zur großen Tür hinaufführen. Die Ruhe, die hier herrscht tut mir gut. Endlich kann ich richtig durchatmen, ohne jemanden um mich zu haben, der mich sehen könnte. Es gibt nur mich.

Doch schon bald kann ich die Stille nicht mehr genießen, sondern empfinde sie als erdrückend. Früher habe ich gerne meinen Gedanken und Gefühlen gelauscht oder mir die Bilder angesehen, die ich von den Familien geschossen habe. Jetzt tut alles nur noch weh. Meinen Gefühlen zu lauschen, ist schrecklich, da jene, die ich noch fühlen kann, böse sind. Und meine Gedanken kreisen einzig und allein um Alex und diesen einen Moment, den ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis streichen würde. Ich schlucke und lasse zu, dass mir eine einsame Träne über die Wange rinnt.

Nach endlosen drei Stunden trudeln nach und nach die Schüler ein und warten mit mir. Ich habe das Gefühl, dass sie mich gar nicht wahrnehmen. Endlich kommt jemand mit dem Schlüssel und setzt unserem Warten ein Ende. Besser gesagt das der anderen, denn ich bleibe sitzen. Niemand bemerkt es. Niemanden stört es. Niemand fragt mich wieso.

Als die Glocke das erste Mal ertönt, stehe ich widerwillig auf und schlurfe in die Aula. Gerade als ich auf dem Weg zu meinem Spind bin, sehe ich ihn. Abrupt bleibe ich stehen und starre seinen Rücken an.

Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und das Reich der Dunkelheit, das in mir wohnt, wird von einem kleinen, aber starken Lichtstrahl durchbrochen. Plötzlich überkommt mich ein so überwältigender Schmerz, der mich zusammenzucken lässt.

Mit aller Kraft unterdrücke ich den Schmerzensschrei, der mir schon in der Kehle sitzt. Ich drehe mich um und renne nach draußen. Nach ein paar Sekunden, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlen, gehen die Schmerzen zurück und die Blase der Dunkelheit schließt sich wieder.

»Oh mein Gott! Das darf nicht wahr sein!«, hauche ich und stütze mich an den Steinstufen ab.

Alex ist wieder da. Ich schlucke und denke an den enormen Schwall von Schmerzen, der mich eben überkommen ist. Was war das? Es fühlte sich an wie... Leben. Ist das wirklich möglich? Kann ich die Dunkelheit zurückdrängen und meinem Geist wieder Leben einhauchen? Naja... besser gesagt kann Alex das.

SOPHIE (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt