1 | escape run.

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COLD COLD COLD - cage the elephant

Meine Mutter hat mich immer davor gewarnt, nie in dieser Welt herauszustechen

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Meine Mutter hat mich immer davor gewarnt, nie in dieser Welt herauszustechen.

Aus dieser selbstsüchtigen und konservativen Welt. Ich sollte mir nie die Haare bunt färben, nie ein Mädchen in der Öffentlichkeit küssen oder etwas sagen, dass jemanden erzürnen könnte. Nie etwas auffallendes tun, grau und unauffällig sein.

Weil ich eine Frau war und sich das in meiner Gesellschaftsklasse einfach nicht gehörte.

Dass ich auf die Seite schauen sollte, wenn ich etwas ungerechtes sah und stumm bleiben sollte, wenn mir etwas nicht gefiel.

Aber tut mir leid, Mum, genau das tat ich in diesem Moment nicht. Stumm bleiben, leise und still.

»Wissen Sie was, Mr. Louis?«, fragte ich den alten Mann, der steif an der Balustrade angelehnt stand, seine grauen Haare voller Gel. Er zog eine Braue in die Höhe.

»Sie können sich Ihre Meinung über den jetzigen Wirtschaftsmarkt sonst wo hinstecken«, zischte ich und Mr. Louis entglitten seine strengen Gesichtszüge.

Meine Mutter neben mir erstarrte, rote Flecken bannten sich ihren langen Hals wie kleine giftige Schlangen hinauf, erhitzten ihr Gesicht.

Sie konnte mir auch gar keinen Spaß gönnen.

»Juniper, was soll das?«, fragte sie, ihre Stimme entglitt ihr fast, so entsetzt war sie. Wäre mein Vater hier, würde das anders laufen. Aber er war in einem anderen Land, weit, weit weg auf Geschäftsreise, also konnte ich tun und lassen, was ich wollte, streckte meine einst so schönen Flügel vorsichtig aus, wie um endlich wieder Flug zu holen.

»Entschuldige dich sofort oder wir sehen dich erst beim Abendessen wieder!«, flüsterte sie durch zusammengebissenen Zähnen und ich verdrehte seufzend meine Augen.

Oh Gott, sie konnten mich einmal alle.

»Nein, Mum, werde ich nicht«, sagte ich nach einem Moment, schaute ihr direkt in die braunen Augen. Ihre zurückgedrehten Haare, das strenge wunderschöne Gesicht. Die perfekt sitzende Maske, die jetzt drohte, zu verrutschen. »Ich werde mit sicher nicht anhören, wie er sich jetzt weitere zwei Stunden lang sich über unsere Gesellschaft, den Markt, die erhöhten Preise, das ekelhafte Essen, egal was, beschwert und still daneben sitzen«, meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter, hallte im hohen Flur wieder.

Mr. Louis starrte mich nur an, als hätte er mich gerade eben das erste Mal wirklich wahrgenommen. Ich war vielleicht die Tochter seines Geschäftspartners, aber ich war trotzdem ein eigenes Individum. Eine eigene Person, verdammt noch mal.

Nicht nur das biologische Kind seines Freundes, das hübsch lächelnd neben seiner Mutter stand und zu allem zustimmend nickte, Gott, ich wollte weg von hier.

»Juniper, du wirst jetzt sofort-«

Ohne meiner Mutter zuzuhören, drehte ich mich breit lächelnd zu Mr. Louis um, der noch immer versteinert neben der weißen Balustrade stand und machte einen übertriebenen Knicks. »Ich hoffe für uns beide, Sir, dass wir uns nie wiedersehen.«

Und dann war ich weg, rannte die breiten Treppen hinunter, die Schreie meiner Mutter ignorierend. Sie konnte eh nichts mehr machen, sollte sie doch Dad davon erzählen.

Atemlos blieb ich unten vor den vielen abzweigenden Gängen stehen und schlüpfte aus den unbequemen, hohen Schuhen.

»Oh mein Gott«, murmelte ich erleichtert, warf sie in eine dunkle Ecke, bevor ich im Dienstgang verschwand. Mit wehendem Rock, barfuß und breit grinsend rannte ich über den roten Teppichboden, alles war leer und verlassen, niemand war mehr im Haus.

Hier würde meine Mutter nie nachschauen, nicht in der Küche, nicht in der kleinen Abstellkammer, in der ich jetzt keuchen verschwand, mein Kleid wehend um mich herum, der ganze grüne Stoff, der Tüll. Dafür ekelte sie sich viel zu sehr.

Das perfekte Versteck für Wechselkleidung.

Schnell zog ich mir die Klammern aus den blonden Locken, fuhr mir über die schmerzende Kopfhaut. Ich hasste es, wenn ich sie streng hochgebunden haben musste. Ich hasste, hasste das ganze Haarspray, die zurückgezogene Kopfhaut, den schmerzenden Nacken.

Viel lieber trug ich sie offen und ließ sie wild von meinem Kopf abstehen, ungebändigt und frei, nicht zurückgezwungen, keusch und artig.

Mein Handy vibrierte in der weiten Hose und schnell holte ich es heraus.

Vielleicht schaffte ich es sogar noch rechtzeitig aus dem Haus.

Solange mein Vater nicht da war, war alles gut, alles schön. Er war oft auf Dienstreisen, sein Gesicht immer kalt und seriös, wenn er wieder da war, die blonden Haare zurückgekämmt. Wir sahen uns viel zu ähnlich, so ähnlich, dass ich manchmal nicht in den Spiegel schauen konnte, ohne seine leblosen Augen vor mir zu sehen, dunkelbraun und tot.

Ich wusste, meine Taten heute würden Folgen haben, aber gerade war mir das so unglaublich egal, ich musste einfach raus aus diesem riesigen, leeren Haus. Verschwinden, auch wenn nur für einen Abend.

Blake: wir warten schon auf dich, wo bist du??

Leise fluchend strich ich mir die Locken aus dem Gesicht, bevor ich eine Antwort eintippte und auf absenden drückte.

Und dann war ich weg, nur in Pullover und Hose, das grüne Kleid verlassen am Boden der dunklen Kammer, als wäre nichts passiert.

APOLLOWo Geschichten leben. Entdecke jetzt