James verkroch sich nach dem Abendessen sofort in die hinterste Ecke der Bibliothek und tat, als lerne er.
Freunde ... das konnte man von zwei verschiedenen Seiten aus sehen: Die erste war seine Sichtweise, nämlich die endgültige Abfuhr. Lily hatte ihm sagen wollen, dass aus ihnen nie mehr werden könnte als "vielleicht Freunde". Remus dagegen war der Meinung, dass Freundschaft ein Fortschritt war und dass James weiterhin versuchen sollte, Lily Evans für sich zu gewinnen. Im ersten Moment, nämlich am Abend vorher und eigentlich auch noch bis zum heutigen Abendessen, hatte James das Gleiche geglaubt. Aber als Lily von "Freunde" gesprochen hatte, war ihm klar geworden, dass sie wahrscheinlich die Jahre über recht gehabt hatte: Aus ihnen würde niemals ein Paar werden.
Verzweifelt zerknüllte James das Blatt Pergament, das vor ihm lag. Vor kurzem erst hatte er verstanden, dass er nicht nur auf Lily Evans stand, sondern dass er sie wirklich liebte. Genauer gesagt hatte Marlene ihn darauf aufmerksam gemacht. James blickte auf sein Notizbuch, das aufgeschlagen vor ihm lag und das beinahe vollständig mit Zeichnungen von Lily, nie abgegebenen Liebesbriefen an Lily, Notizen über Lily und heimlich geschossenen Fotos von Lily gefüllt war; alles darin drehte sich um Lily.
Kurz vor Mitternacht warf Madam Pince ihn aus der Bibliothek, weil sie schlafen gehen wollte, und er musste sich wohl oder übel auf den Weg zum Gemeinschaftsraum machen. Als er jedoch um die letzte Ecke biegen wollte, hörte er zwei Stimmen, die auf dem dunklen Flur in ein Streitgespräch verwickelt waren. Die eine war Lilys Stimme, die andere gehörte Snape. Hastig drückte James sich an die Wand und schlich vorsichtig an die nächste Ecke heran, um mithören zu können. Er wusste, dass das nicht besonders höflich war, aber er war einfach zu neugierig.
"Nein, Severus, vergiss es", sagte Lily. "Ich habe gehört, wie du ... mich wieder genannt hast, nach unserem letzten Gespräch. Dreimal ist einmal zu viel." James ballte die Fäuste. Er konnte gar nicht beschreiben, wie er Schniefelus in diesem Augenblick hasste. Auch einmal ist schon einmal zu viel, dachte er.
"Es tut mir wirklich, wirklich leid, Lily", hörte er Snapes weinerliche Stimme. "Es ist mir rausgerutscht, ich würde dich niemals absichtlich so nennen."
"Rausgerutscht?!" Lilys Stimme wurde nun lauter. "Genau das hast du schon zweimal behauptet, Severus. In genau dem Wortlaut. Du solltest dir eine neue Entschuldigung ausdenken, denn diese wird langsam lahm." Ihre Stimme war messerscharf, keine Spur der sonstigen Sanftheit und Freundlichkeit war darin zu hören. Snape setzte mehrere Male zu einer Erwiderung an, aber er fand keine Worte.
"Die Zeit unserer Freundschaft ist vorbei, Severus Snape", sagte Lily leise. "Es tut mir leid. Du hast mein Vertrauen zu oft gebrochen. Es ... es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst." Schritte entfernten sich. James atmete auf. Hätte Snape jetzt noch etwas Fieses kommentiert oder Lily gar wieder ein Schlammblut genannt, wäre er wohl hinter seiner Ecke hervorgestürmt und hätte ihm eine geknallt.
Doch plötzlich hörte James ein Schluchzen und er lugte vorsichtig hinter seiner Ecke hervor. Lily, die eben noch so stark, abweisend und unnahbar gewesen war, hockte zusammengekauert auf dem Boden und weinte um ihre Freundschaft zu Severus Snape. James ignorierte die Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass es vollkommen idiotisch war, um eine Schlange zu weinen, erst recht, wenn es sich um eine Schlange wie Snape handelte, und ging langsam auf Lily zu.
"Nicht erschrecken, ich bin es nur", sagte er leise, bevor er sich zu ihr auf den Boden setzte. Sie nickte, sah ihn aber nicht an.
"Hast du schon mal einen guten Freund verloren, James?", fragte sie nach einer langen Weile, in der sie nur schweigend nebeneinander gesessen hatten - Lily leise weinend, James verlegen, weil er nicht wusste, was er tun konnte, um sie zu trösten. Er nickte, dann wurde ihm klar, dass sie ihn ja immer noch nicht ansah.
"Ja", sagte er. "Es ist schrecklich, wenn eine Freundschaft vorbei ist."
Jetzt hob Lily den Kopf und sah ihn an. "Du hast schon mitbekommen, dass das Severus war, oder?"
James zögerte kurz, dann nickte er. "Wieso fragst du?"
"Weil du mir gar nicht einreden willst, dass er ein blöder Troll ist, der mein Vertrauen nicht wert ist und meine Tränen schon gar nicht."
"Das haben dir sicher schon viele andere gesagt", erwiderte James. "Ich dachte, du hast wahrscheinlich schon genug davon, dass dir gesagt wird, er war ein Idiot und ist es nicht wert. Aus deiner Perspektive war er dein bester Freund und wer nicht um seinen besten Freund weint, sollte sich eventuell Sorgen machen." Lily lächelte kurz, dann blickte sie auf ihre zitternden Hände.
"James?", fragte sie schließlich zaghaft. "Kriege ich eine Umarmung?" Vorsichtig, aber ohne zu zögern legte James seine Arme um sie und zog sie an sich. Erst dann fragte er sich, warum sie sich ausgerechnet von ihm umarmt werden wollte. Hatte sie ihn nicht vor ein paar Stunden noch genervt und wütend angebrüllt?
"Du bist der Erste, der das sagt", murmelte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Die anderen wollen mir immer einreden, dass Severus ein durch und durch schlechter Mensch ist, aber sie kennen ihn nicht. Er war früher wirklich ein guter Freund, aber seit er diese Freunde in Slytherin hat, verändert er sich immer mehr ... ich habe es nicht mehr ausgehalten." James sagte nichts dazu. Er konnte Snape absolut nicht leiden und hätte auch gern gesagt, was die anderen gesagt hatten, aber er wollte diesen kostbaren Moment nicht zerstören, in dem er Lily Evans in seinen Armen halten durfte. Lily schniefte und löste sich von ihm.
"James", sagte sie vorsichtig.
"Ja?"
"Du musst das jetzt nicht beantworten, wobei keine Antwort in diesem Fall auch eine Antwort ist - liebst du mich? So richtig? Also, ich meine, nicht wie bei 'ich steh auf dich' oder 'ich mag dich' oder so, sondern -"
"Ja", unterbrach James sie. Es war ihm in diesem Moment völlig egal, dass er diesen endgültigen Korb bekommen hatte. Er wollte es einfach loswerden. Lily sah ihn aus großen Augen an. Als sie nichts sagte, sprach er weiter. "Ich liebe dich, Lily. Früher dachte ich, das geht vorbei, aber Marlene hat mir gewaltig den Kopf gewaschen. Ich liebe dich und es wird nicht vorbeigehen, es wird bleiben."
Lily nickte und schwieg. "Es tut mir leid, James", sagte sie schließlich. "Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Ich war bisher der Meinung, dass du nicht wirklich in mich verliebt bist, weil du mir so auf die Nerven gegangen bist. Und es kommt im Moment bei mir ziemlich viel zusammen - ich kann Weihnachten nicht bei meinen Eltern und meiner Schwester verbringen, dabei vermisse ich sogar meine widerliche Schwester ganz schrecklich, ich habe meinem besten Freund die Freundschaft gekündigt, unsere Lehrer fordern immer mehr und mehr und jetzt kommt das hier und heute ist das alles einfach auf mich eingestürzt ..." Sie schüttelte den Kopf.
"Um meine Aussage von vorhin klarer zu machen: Können wir Freunde sein? Fürs erste? Und dann sehen, was daraus wird?" Lily war ganz klein geworden. Die selbstsichere, schöne, starke Lily Evans war ein kleines Häufchen Elend, das da neben James am Boden saß und versuchte, nicht wieder zu weinen. James sah sie an und dachte wieder einmal, dass sie so wunderschön war, auch wenn sie ein Häufchen Elend war.
"Es ist okay", sagte er leise und hoffte, dass sie seine Stimme nicht zittern hörte. "Eins nach dem anderen. Komm erst mal über Sn ... Severus hinweg und stell dich darauf ein, hier in Hogwarts das beste Weihnachten deines Lebens zu verbringen."
Lily nickte und schniefte wieder. "Können wir reingehen?", fragte sie. "Hier draußen ist es kälter, als ich dachte." James stand auf und reichte ihr die Hand, um sie hochzuziehen. Gemeinsam gingen sie in den Gemeinschaftsraum, der bis auf ein paar lernwütige Siebtklässler schon leer war - kein Wunder, es war bereits weit nach eins.
Diesmal war es Lily, die ihre Arme um James schlang. Überrascht erwiderte er die Umarmung.
"Danke, James", flüsterte sie. Er sah ihr nach, als sie die Treppe zu ihrem Schlafsaal hochging.Und nochmal ein bisschen Kitsch ... mir tut James ja leid. Hoffen wir für ihn, dass er jetzt schlafen kann :)
Gute Nacht (falls es bei euch gerade genauso spät ist wie zu diesem Zeitpunkt, an dem ich dieses Kapitel beende)
Eure Blacky
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Das Experiment | Ein Jily-Adventskalender
Hayran KurguVierundzwanzig Tage noch bis Weihnachten, hier wie in Hogwarts. Vierundzwanzig Tage bis zum Weihnachtsball, vierundzwanzig Tage Chaos im Gefühlsleben der Sechstklässlerin Lily Evans, die sich tatsächlich entschlossen hat, mit James Potter zum Ball g...