Π KAPITEL I Π

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Mein Vater wurde in Augen der japanischen Polizei innerhalb einer Sekunde vom Volltrottel zum Helden. Mit einigen Schüssen beendete er die länger als sechs Jahre andauernde Mordserie des größten Massenmörders der Geschichte. Mein Vater tötete Kira. Dies trug sich im Jahre 2013 zu, und seitdem ich denken kann, gibt er immer wieder damit an. Aber ich bin stolz auf ihn.

Vor zwei Jahren wurde er sogar befördert. Herr Aizawa trat den Posten des Oberinspektors an ihn ab. Oberinspektor Matsuda, das klang schon ordentlich. Vater aber sagt, dass es nur einen Namen gab, der noch besser klang: Oberinspektor Yagami. Der Vater Kiras, der Chef Vaters, der Mann, der im Zuge des Kira-Falls starb. Vater bewunderte ihn für seine Arbeit.

"Ryoko! Kommst du essen?", rief Vater fröhlich. Sein Optimismus war bewundernswert. "Ich komme", rief ich zurück und rappelte mich auf. Welche Geschichte erzählte er wohl heute am Tisch? Hoffentlich nicht wieder diese eine, wie er als Misa Amanes Manager sterben musste. Diese Aktion war schon sehr idiotisch.
Mutter und Akio, mein kleiner Bruder, saßen schon am Tisch. Ich setzte mich und schon konnten wir mit dem Mahl beginnen.

"Vater, erzähl uns eine Geschichte!", piepste Akio freudig. Irgendwie fand ich das niedlich, aber er war auch erst sechs Jahre alt. Vater lachte. "Ok, ok, dann lasst mich überlegen. Wollt ihr die Story über meine erste Interpol-Konferenz hören?", fragte er schmatzend. Akio schien vollkommen begeistert, ich hingegen schüttelte den Kopf. Diese Geschichte habe ich auch oft genug gehört, dass sie langweilig geworden ist. Zum sterben langweilig.
"Hast du denn keine, die wir noch nicht gehört haben?", fragte ich und stützte meinen Ellenbogen auf dem Tisch ab. "Ryoko! Nimm deinen Ellenbogen runter, sonst kommt Kira!", schrie Akio panisch.  Vater schlug seine Handfläche auf den Tisch. "Keine solcher Drohungen in diesem Hause", sagte er eindringlich und zu hundert Prozent ernst. Dann sah er mich an. "Eine hätte ich da."

Ich sah Vater aufmerksam an, strich mir nebenbei meinen dunkelbraunen Pony aus dem linken Auge. "Was ist Gerechtigkeit?"
Wir alle waren mucksmäuschenstill. Akio rückte mit dem Stuhl näher an Mutter heran.

"Diese Frage habe ich mir selten gestellt. Dabei hätte ich früher viel öfter darüber nachdenken sollen. Denn nicht immer sind die guten Taten auch gerecht. Die Taten Kiras sorgten für ein gerechtes Ergebnis, jedoch war der Weg dorthin alles andere als gerecht. Die Taten des L waren auch nicht immer die besten. Er opferte Menschen, um Kira zu fassen. Er handelte skrupellos, und doch sieht ihn jeder als gerecht. Kira handelte ebenso skrupellos, niemand sieht ihn als gerecht. Beide hatten dasselbe Ziel. Ryoko, du bist alt genug. Denke darüber nach und sage mir, wer von beiden war nun gerecht? War es überhaupt jemand?"

Ich starrte ihn an. Selber wusste ich spontan keine Antwort, wir alle schwiegen. Ich kannte weder Kira, noch L persönlich, wie kann ich dann urteilen?
Vater erhob sich. Seine schwarzen Haare klebten ihm an der Stirn. "Heute bekommen wir Besuch. Sayu kommt vorbei, sie hat erst vor kurzem die Uni abgeschlossen."
Damit begann er, den Tisch wieder abzuräumen.

Ich warf mich auf meinen Schreibtischsstuhl und begann, meine Hausaufgaben gewissenhaft zu bearbeiten. Meine Konzentration aber ließ das nicht zu. Gerechtigkeit... Gab es dafür überhaupt eine Definition?
Ich seufzte. Vielleicht könnte mir Sayu ja helfen, aber wie würde sie reagieren, wenn ich sie mit Kira konfrontierte? Wir redeten nur über Sayu, wenn es um die Yagami-Familie geht, nie um den Sohn, Light Yagami. Er war ein sehr intelligenter Mensch, aber er nutzte seine Intelligenz für die falschen Dinge. Kira war er gewesen...

Ich sollte meine Gedanken auf Mathematik konzentrieren, und nicht mich damit auseinandersetzen.

Engel gibt es nicht | ᴰᵉᵃᵗʰ ᴺᵒᵗᵉ ᶠᶠWo Geschichten leben. Entdecke jetzt