Aice Nandina | Kapitel 23

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Gefühlte Stunden saß ich nun schon hier oben und starrte von einer Kante des Füllhorns zur anderen. Jedes mal verkrampfte ich mich wieder, wenn Stimmen nahe klangen, doch niemand kam hoch.
Das Gefühl in meinen Fingern hatte ich schon lange verloren. Das einzige was dort war, war der Schmerz den die Sandkörner, die meine Hände trafen, verursachten.
Dieser Sandsturm war eindeutig nicht natürlich. Zwar hatte ich noch nie einen miterlebt aber dieser schien mir unnatürlich stark und kontrolliert. Immer wieder wechselte der Wind die Richtung, damit man nirgendwo wirklich geschützt war. Die Spielmacher steuerten ihn, was bedeutete, dass sie auch bestimmen würden, wie lange er anhielt. 
Nur für eine Sekunde hatte ich meine Aufmerksamkeit schleifen lassen und verpasste, wie eine Hand an der Kante aufragte. Zwar hatte ich noch eine Chance, aber als ich aufsprang gaben meine Beine, die die ungewöhnliche Haltung in der sie die letzten Minuten verbracht hatten, nach und ich kippte nach vorne über. Bis ich bei der Gestalt sein würde, wäre sie schon auf der Oberfläche. Eine Möglichkeit wäre es mein Messer zu werfen. Wenn ich jedoch nicht traf, würde es nicht treffen. Also versuchte ich Plan B.
So wie meine Beine wieder stark genug waren, drückte ich mich von Boden ab und sprintete los. Wenn ich Glück hatte, würde ich bei dem anderen Tribut ankommen, bevor er genug Halt hatte. Dann könnte ich ihn mit Schwung runter werfen, ohne selber mitgerissen zu werden. Zumindest sah so die Theorie aus. Dummerweise hatte die Gestalt entweder mit einen Angriff gerechnet oder reagierte nur unglaublich schnell, wodurch wir mit voller Gewalt zusammen rannten. 
Ich wusste nicht mehr wo oben und unten war. Das einzige was zählte, war meinen viel schwereren Gegner loszuwerden oder er würde mich töten.
Schon im Fallen merkte ich, dass es in meine Richtung geht und die Gestalt auf mir landen würde. Ich machte meinen Rücken rund und griff gleichzeitig nach dem Oberteil meines Gegenüber. Dank dem Schwung, den wir beide hatten, konnte ich ihn über mich werfen, merkte aber erst da, dass auch er mit dachte. War ja klar, dass ich ausgerechnet einen der Tribute bekam, der Tatsächlich kämpfen konnte. Aus Reflex oder des Wissens wegen, griff er genau im gleichen Rhythmus, wie ich, nach mir, wodurch er zwar über mich fiel, mich aber gleichzeitig mitriss. Wir rollten zwei mal übereinander bevor wir an der gegenüberliegenden Kante zum liegen kamen. Ich unter dem Gewicht meines Gegners begraben. Meine Hand, mit dem ich das Messer umklammerte, unter seinen Fuß schmerzhaft eingeklemmt.
Auch wenn ich so gut wie Tod war, wollte ich nicht kampflos aufgeben und zog meine linke, noch freie Hand, zur Faust zusammen. 
„Aice?“ Gerade als ich Schwung holte, vernahm ich eine vertraute Stimme.
Nio!
Ich konnte nicht mehr stoppen und traf ihn perfekt am Kinn. Ich spürte zwar wie meine Fingerknöchel aufplatzten aber sah gleichzeitig wie Nio, der damit nicht gerechnet hatte, vom Schwung zur Seite geschleudert wurde und nur noch halb auf mir kauerte. Dadurch lag nun sein ganzes Gewicht auf meinem rechten Arm und ich schrie gepeinigt auf. 
Von meinem Schrei aufgeschreckt, reagierte Nio fast über schnell. Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen wie er von mir komplett runter kletterte, als er mich auch schon schützend in seine Arme zog.
„Was ist los? Alles okay?“, fragte er und ging auch schon mit seinen Augen alleine auf Erkundungstour.
„Alles okay“, beschwichtigte ich ihn, auch wenn mein Handgelenk immer noch stark protestierte. Ich schaute in seine leuchtenden Augen und bemerkte das Blut an seiner Lippe. Gewissensbisse packten mich und ich biss mir auf die Lippe. Vorsichtig berührte ich die Stelle, doch er zuckte schmerzhaft weg. 
„Tut mir Leid wegen dem Schlag.“, entschuldigte ich mich schnell, doch Nio winkte ab.
„Gut zu wissen, dass du mittlerweile so fest zuschlagen kannst.“, grinste er. 
Sein Gesicht war von Dreck und Staub verschmiert aber ansonsten sah er fit aus. Er trug die gleiche Kleidung wie ich, nur das seine die Farbe von dunklen braun hatte.
Erst in dem Moment realisierte ich was passiert war. Ich würde nicht jetzt sterben und Nio war zumindest bei mir. 
Glücklich fiel ich ihm um den Hals und wollte ihn nicht mehr los lassen. Die Angst, ihn in diesem Sandsturm noch einmal zu verlieren war so groß. 
Der Hochmoment war so schnell wieder weg wie er gekommen war und ich spürte wie mein ganzer Körper zu zittern begann. Ohne es aufhalten zu können, löste sich ein schluchzen aus meiner Kehle und als der erste frei war, kamen immer mehr. Der Schock und die Angst der letzten Minuten forderten seinen Tribut. Zwar dachte ich immer, ich wäre nicht nah am Wasser gebaut, aber das ganze hier nahm mich zu sehr mit.
Nur halb merkte ich wie Nio mit mir aufstand, ohne mich loszulassen, und wieder in die Ecke ging, in der ich vorher gesessen war. Dort ließ er sich, mit mir auf dem Schoss, nieder und begann langsam meinen Rücken zu streicheln. Er redete nicht beruhigen auf mich ein, wie Seezth es tun würde und der Gedanke an meinen Distriktpartner ließ eine neue Schmerzenswelle durch meinen Körper schießen. Was wenn er schon Tod war? Wenn einer der Schreie, die ich gehört hatte, seiner gewesen war?
Nio ließ mich an seiner Schulter weinen und versuchte mich zumindest mit gleichmäßigen streicheln zu beruhigen. 
Es dauerte nicht lange und auch das hatte seine Wirkung.
Ein kleiner Nervenzusammenbruch war ja okay und zeigte Menschlichkeit aber ich musste mich auch wieder fangen, um überhaupt eine Chance auf Sponsoren zu haben.
„Wieder besser?“, fragte Nio als ich zum ersten mal wieder aufsah und ich spürte regelrecht wie ich rot wurde. Während er hier gelassen saß, war ich wie ein kleines Kind, welches Angst vor der Dunkelheit hatte, zusammengebrochen.
„Tut mir Leid.“
„Schon gut Aice.“ Nio küsste mich und ich spürte wieder wie anders seiner und Seezth Küsse waren. Bei Nio fühlte es sich an wie eine Bestätigung. Es war besitzergreifender und in seinen Armen fühlte ich mich klein und zierlich. Jeder Kuss, selbst so ein kurzer wie jetzt, war wie ein Rausch, bei dem ich nur hoffen konnte, danach wieder auf den Beinen zu landen. Als er seine Lippen von den meinen löste, lehnte er seine Stirn gegen die Meine. 
„Ich bin so froh das du noch lebst.“, seufzte er und ich musste lächeln.
„Danke das du mich nicht umgebracht hast.“, konterte er und das Lächeln spiegelte sich auf seinen Gesicht wieder.
„Danke das du mir nicht den Kiefer gebrochen hast, auch wenn du nah dran warst.“
Wahrscheinlich hätten wir so ewig weitermachen könne und zumindest für kurze Zeit die Spiele vergessen können. Der Sandsturm ließ aber eindeutig nach und wurde mit Sekunde zu Sekunde weniger.
„Wir müssen hier runter.“, erklärte Nio und ich nickte. Wenn der Sandsturm vorbei war, würde man uns sehen und wir würden ein gutes Ziel abgeben. 
„Am besten klettere ich zu erst um zu sehen ob unten jemand ist. Dann springst du. Ich fange dich auf, keine Angst.“, erklärte Nio seinen Plan, „So wie du unten bist, rennen wir los und hoffen weit genug wegzukommen, bevor uns jemand merkt.“
Der Plan war gut, aber in meinen Kopf hatte er einen Hacken.
„Ich muss nach Seezth schauen.“ Die Worte kamen schneller über meine Lippen, als ich sie gedacht hatte. Nios Gesicht verzog sich kurz – wütend? - bevor er es wieder unter Kontrolle hatte.
„Warum? Die Chance in andere dabei zu rennen ist ziemlich hoch.“
„Ich muss einfach wissen ob er ...“ Ich konnte den Satz nicht zu ende sagen. Seezth und Tod in einem Atemzug zu benutzen schien mir nicht richtig. Trotzdem musste ich Gewissheit haben. Wenn er lebte musste ich ihn einfach finden. Das war ich ihm schuldig. 
Nios Gesicht wurde weicher als er mich betrachtete.
„Okay“, willigte er ein und stellte mich neben sich ab. Es war kaum noch Sand in der Luft und die Körner waren auch nicht mehr, wie herumfliegende Nadeln. Bis ich gesprungen war und Nio mich aufgefangen hatte, war der Sandsturm schon komplett verklungen. Auf unserer Seite des Füllhorns standen keine Gestalten. Es wäre ideal zum wegkommen, besonders da der Weg, weg vom Füllhorn, gar nicht so einfach aussah. Zwar war nirgendwo ein Abhang, dafür lag das Füllhorn aber in einer Nische zwischen Sanddünen, die Meterweit um uns herum aufragten und den Blick auf das dahinter versperrten. In der Ferne sah man einzelne Gestalten die Dünen schon erklimmen. Die Überlebenden hatten sich anscheinend das gleiche gedacht wie wir, als der Sandsturm abklang.
Nichts wie weg hier.
Nio blickte den Fliehenden, die seinen Rat befolgten kurz hinter und ich befürchtete, dass er doch einfach gehen würde. Ich wusste nicht, was ich dann tun sollte. Einerseits wollte ich bei ihm bleiben. Andererseits konnte ich nicht gehen, ohne zumindest nach Seezth zu suchen. Was wenn er verletzt war?
Meine Sorge war unbegründet, da Nio meine Hand nahm und begann sich entlang des Füllhorns auf die andere Seite zu schleichen. 
Wir waren vorsichtig, aber jeder der noch laufen konnte, schien weg gelaufen zu sein. Meine Hoffnung Seezth zu finden sank. 
„Willst du die Toten durchsehen?“ Nios Stimme war sanfte, als ich jemals für möglich gehalten hatte. Zwar konnte er Seezth nicht leiden aber er schien zumindest zu verstehen, dass er mir wichtig war.
Ich drängte die Tränen, die sich in meinen Augen bildeten zurück und nickte. Der Klos in meinen Hals machte es mir schwer, zu schlucken aber ich musste es einfach wissen, ob Seezth unter ihnen war auch wenn mein ganzer Körper regelrecht schrie, dass er es nicht feststellen wollte.
Schweigend machte ich mich auf, um den ersten Körper, der schon halb unter dem Wüstensand begraben war hervor zu buddeln. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, dass mich jederzeit Seezth toten schwarz-lila Augen anblicken konnten.

Aice Nandina | Wenn Liebe zum Spiel wird Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt