Aice Nandina | Kapitel 20

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Ich konnte nicht schlafen. 
Zwar war ich nicht einmal aufgeregt vor dem morgigen Tag, aber eine innere Unruhe hatte mich gepackt. Zu viele Dinge waren unerledigt geblieben. Wenn ich in der Arena sterben würde, könnte ich das alles nie tun.
Wenn ich die Augen schloss sah ich abwechselnd die Gesichter meiner Familie. Dann Nio und Seezth.
Genervt stöhnend setzte ich mich schwungvoll auf. So würde das sowieso nichts werden. Zu viele Gedanken kreisten mir im Kopf herum und ich fühlte mich unbehaglich. Dieses Bett war einfach zu groß. Ich vermisste Meleena, die sich an mich kuschelte. Oder aber auch Seezth...
Ich wurde wirklich langsam wahnsinnig. Morgen würde ich in eine Arena gesteckt, um mit dreiundzwanzig anderen Jugendlichen, ums nackte überleben zu kämpfen. Alles würde mein Feind sein. Die Spieler, die Umgebung und vieles mehr. Nur einer konnte gewinnen. Und mein einziges Problem war, dass ich ein schlechter Mensch war, weil ich Gefühle für zwei Kerle zu gleich hatte?
Hatte ich überhaupt Gefühle für sie?
Ich mochte die Art wie Nio mich ansah oder Seezth mich umarmte aber konnte man zwei Menschen zur gleichen Zeit lieben? Sollte man solche Fragen nicht seinen Eltern stellen können? ...Bei dem Gedanken musste ich unweigerlich auflachen. Selbst wenn sie noch leben sollten, würden sie mich wahrscheinlich entsetzt anschauen und dann hilfesuchend sich gegenseitig. Wahrscheinlich hätte meine Mutter nur mit kalter Stimme gesagt: „Was gibt es da zu entscheiden. Nio ist die bessere Partie. Sie dir seinen Familienstammbaum. Viele Spielmacher und Unterstellte der Präsidenten. Genau wie unsere Familie. Über die Tails ist kaum etwas bekannt. Sie sind immer so ruhig und unscheinbar. Das passt nicht in unsere Familie.“ 
„Danke Mom, und meine Gefühle zählen wie immer gar nicht“, wäre wahrscheinlich meine trockene Antwort gewesen und wir hätten wieder einmal begonnen zu streiten, bis meine Schwester dazwischen gegangen wäre und die Wogen wieder geglättet hätte. Zumindest soweit, dass meine Mutter beleidigt abziehen konnte und ich mir noch eine Standpauke meiner Schwester anhören hätte müssen, warum ich unsere Mutter immer so aufregen musste. Nur weil ich eine Meinung hatte, musste ich sie ja schließlich nicht jedem auf die Nase binden. Dann hätte sie ihr falsches Lächeln wieder aufgesetzt, mir einen unbedeutenden Schwesternkuss auf die Wange gehaucht und wäre ebenfalls verschwunden. Alle hätten sie mich alleine gelassen, ohne das einer meine Frage beantwortet hätte.
Komisch. Wenn ich jetzt so daran dachte, vermisste ich es sogar. Meine Familie war nicht perfekt. Im Gegenteil, sie war eine Katastrophe gewesen. Aber es war meine Familie gewesen. Meine Eltern. Meine Schwester...
Manchmal wäre einfach aufgeben so viel einfacher, aber das konnte ich Meleena nicht antun. Für sie musste ich stark sein, auch wenn ich nicht stark sein wollte. Ich wollte mich einfach zurück in meine Kissen werfen und hemmungslos weinen. Über den Verlust. Über die Ungerechtigkeit. Eben einfach über alles. Einfach die Augen schließen und zumindest für einen Moment wieder das Kind sein, was ich doch eigentlich war und welches durch die Rebellion von mir gerissen wurden war.
Bevor ich der Versuchung, es wirklich zu tun, nachgeben konnte, streckte ich meine Füße aus dem Bett und stand auf. Ein bisschen herumlaufen würde mich vielleicht auf anderen Gedanken bringen oder mich zumindest etwas mehr ermüden.
Meine Füße trugen mich regelrecht aus dem Zimmer und auf den dunklen Gang hinaus. Ich wusste nicht wirklich wo ich hingehen sollte, also lief ich einfach los. Ließ mich tragen. Die Treppe runter, unten in den Essbereich, Treppe wieder rauf. So ging das, bis ich vor Seezth Tür stand.
„Verräter“, knurrte ich meine Füße an, auch wenn die nichts wirklich dafür konnten, dass ich mich danach sehnte ihn neben mir liegen zu haben.
Ohne weiter darüber nachzudenken, klopfte ich an. Es dauerte nicht lange bis die Tür aufging. Auch wenn er etwas zerknittert aussah, schien er genauso schlecht schlafen zu können wie ich.
Er starrte mich nur an, sagte nichts. Kurz bevor ich darüber nachdenken konnte, dass dies doch keine so gute Idee gewesen war und er vielleicht sauer auf mich war, drehte er sich auf dem Absatz um. Die Tür ließ er offen und ging Richtung Bett zurück.
Vorsichtig schlüpfte ich in sein Zimmer, bevor ich Feigling wieder wegrennen würde. Die Stimmung zwischen uns war angespannt und würde sicher nicht in der Arena helfen.
„Alles okay?“, seine Stimme war ruhig aber auch emotionslos. 
„Ja... ich...“, auf einmal war es mir regelrecht peinlich, dass ich mitten in der Nacht einfach an seine Tür geklopft hatte. Er gesteht mir seine Liebe, ob wahr oder nicht wahr sei dahin gestellt, und ich ignoriere ihn. In der Nacht, stehe ich dann aber vor der Tür, weil ich ohne ihn nicht schlafen kann. Ja war ich nicht ein Beispiel blendender Manieren. „ich konnte nicht schlafen.“
Eine Pause entstand, bevor er endlich antwortete: „Ich auch nicht.“ Dann lächelte er leicht, wodurch mir ein Stein vom Herzen viel. 
Langsam ging ich auf ihn zu, um ihm die Zeit zulassen , mich weg zu scheuchen, bevor ich mich neben ihn aufs Bett setzte. 
„Angst vor morgen?“, fragte Seezth ohne mich anzusehen.
„Nein, nicht wirklich.“, gestand ich, „Zwar fühle ich mich nicht wohl bei dem Gedanken, aber ich habe keine Angst.“
„Warum kannst du dann nicht schlafen?“
„Weil du fehlst.“ Es rutschte mehr aus mir heraus, als das ich genau darüber nachdachte. Ich spürte Seezths Blick schlagartig auf mir, und lief rot an. 
„Mich?“ Fast war es süß wie überrascht er klang.
Ihn? Meleena? Nio? 
„Ja“, seufzte ich frustriert und sprang wieder vom Bett auf.
„Aber“, half Seezth nach, ohne sich zu bewegen. 
Im Zimmer auf und abgehend, beschloss ich meine Verwirrung zu beichten: „Ich weiß nicht was ich fühle. Es passiert zu viel auf einmal. Meleena ist weg. Da bist du, da ist Nio. Da sind zu viele Gefühle und ich ... ich hab einfach Angst.“ 
Seezth sagte nichts. Er stand einfach auf und kam auf mich zu, bis er vor mir aufragte. Immer noch schweigend stand er einfach da. Nichts tat er, weder näher kommen, und die letzten Zentimeter zu überwinden aber auch nicht abrücken. Es schien, als wollte er, das sich entschied, was ich tat. Rational Denken konnte ich ja anscheinend nicht mehr, also beschloss ich meinen Instinkt zu folgen. Dieser Schrie laut, das ich mich die letzten Zentimeter rüber beugen sollte und hoffen, dass er seine Arme um mich schloss und mich hielt. Mir waren die Konsequenzen in diesem Moment egal. Ich wollte mich beschützt fühlen und dieses Gefühl konnte nur Seezth mir geben.
Bevor ich noch weiter nachdenken konnte, machte ich also den Schritt nach vorne. Binnen einer Millisekunde, waren Seezth Arme nach vorne geschossen und hatten mich gefangen genommen. Er hatte wirklich nur darauf gewartet das ich den ersten Schritt mache. Schmunzelnd kuschelte ich mich an seine starke Schulter und genoss das Gefühl der Sicherheit. 
„Und? Ist doch gar nicht so schlimm oder?“, unterbrach Seezth die Stille. 
Ein kurzer Stich von schlechten Gewissen nagte in mir und ich drückte mich ein wenig von ihm ab. Nicht so weit, dass er dachte, dass er mich loslassen sollte, sondern nur das Stücken, damit ich ihn in die Augen schauen konnte. Diese schwarz-lila Augen, die mich immer wieder gefangen nahmen und in dessen Dunkelheit ich einfach versinken konnte.
„Das ist nicht fair?“
„Was ist nicht fair, Aice?“, fragte Seezth und strich eine blaue Haarsträhne aus meinem Gesicht, von der er auf einmal ganz bezaubert schien. 
„Das alles. Gegenüber Nio. Dir. Ich kann doch nicht einfach -“
Seezth unterbrach mich auf seine ganz eigene Art, in dem er mich einfach küsste. 
Auch wenn der Kuss, genau so überraschend war, wie der von Nio, war er doch so anders. Wo Nio Leidenschaftlich vorgegangen ist, war Seezth zurückhaltender. Fast sanft berührten sich unsere Lippen am Anfang nur, als würde er um Erlaubnis bitten. Erst als ich meine Arme um seinen Nacken schlang, wurde der Kuss intensiver. Nios Kuss war auf eine herrliche Art und Weise besitzergreifend gewesen. Als wolle er zeigen, dass man zu ihm gehört. Bei Seezth hingegen spürte ich unter meinen Finger regelrecht die kontrollierte Kraft. Seine starken Arme drückten mich an ihn und ich konnte mir nur vorstellen wie kräftig er wirklich war. Trotzdem hatte ich keine Angst bei ihm, dass er mich verletzten könnte. 
Es war berauschend. Ich wollte mehr und vertiefte den Kuss, während wir quer durchs Zimmer stolperten, bis meine Kniekehlen ans Bett stießen. Ich verlor das Gleichgewicht und wir fielen gemeinsam auf das Bett, wobei Seezth schnell genug reagiert und mich abfing. Anstatt das mir also die Luft, von seinem Gewicht aus den Lungen gedrückt wurde, fing er uns mit einer Hand ab und hielt sich über mir. Seine Lippen waren nur für wenige Sekunden von meinen entfernt und schon das reichte aus um mich fast wahnsinnig zu machen.
Deswegen krallte ich mich regelrecht in seine Schultern, als er wieder da war, und dankte Gott dafür, dass er diesen Jungen fast nackt schlafen ließ. 
Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Nur Seezth Lippen und sein Gewicht auf mir zählten noch.
Als ersteres verschwand wimmerte ich deswegen auf. Nicht das ich es gewollt hätte, aber es kam mir einfach so über meine Lippen. Auf Seezth Gesichtszügen zeigte sich ein stolzes Lächeln. Nicht arrogant, sondern glücklich.
„Was wolltest du vorhin sagen?“, fragte er nach. Ich versuchte mich daran zu erinnern, doch mein Gehirn war wie leer gefegt. Es war auch unwichtig. Wichtig war nur diese Lippen wieder zu spüren.
Als ich versuchte, wieder an mein heißbegehrtes Ziel zu kommen, hielt Seezth mich spielerisch auf und ich knurrte frustriert auf. Hoppla. Das war auch ein Geräusch welches noch nie über meine Lippen gekommen war.
„So gern ich ebenfalls weiter machen würde; einer muss der Vernünftige sein. Wir müssen schlafen oder es zumindest versuchen.“
„Ich hab Angst.“, gestand ich. „Ich will niemand töten. Ich will nicht das du stirbst. Das Nio stirbt.“ Ich biss mir auf die Lippe. Wenn man gerade auf dem Bett unter einen Jungen lag, sollte man vielleicht nicht anfangen von einen anderen zu reden. Doch Seezth wurde nicht wütend. Im Gegenteil. Er lächelte sanft und strich mir sanft über die Wange.
„Ich weiß Kleines. Hab keine Angst, okay? Wenn du morgen auf dieser Plattform nach oben kommst, ignoriere alles was du siehst. Such mich. Schau wo ich bin. Ich werde das gleiche machen. In dem Moment, in dem der Startschuss fällt läufst du auf schnellsten Wege zu mir. Wenn etwas auf deinem Weg liegt, gut. Nimm es mit. Wenn nicht, ist egal. Dann passe ich auf uns auf.“
„Hast du keine Angst zu sterben?“ Ich musste es einfach Fragen. Ich hatte Angst und ich hoffte nicht die Einzige zu sein.
„Doch“, gab er zu, „Aber immerhin muss ich jetzt nichts mehr bereuen.“
„Wie meinst du das? Was hättest du den bereuen sollen?“, fragte ich verwirrt und sein Lächeln wurde wieder breiter. Er drückte mir einen hauchzarten Kuss auf die Lippen, bevor er sagte: „Die ganze Zeit lag ich hier und dachte mir, dass ich es bereuen werde zu sterben, ohne dich mindestens einmal geküsst zu haben.“
Rot wurde anscheinend zu meiner neuen Gesichtsfarbe. Nicht wegen seinen süßen Worten, sondern weil mein inneres gerade das Gleiche schrie. Das war der wahre Grund gewesen, warum ich nicht schlafen konnte, und warum meine Beine mich hier her geführt hatten. Höchstens einmal wollte ich Seezth so nah sein. Auch wenn es eindeutig falsch war, zwei Jungen zur gleichen Zeit zu mögen. Ich würde wahrscheinlich in ein paar Tagen Tod sein. Was zählte also schon Moral? Ich lebte in einer Stadt, die jedes Jahr 24 Kinder raubte und sie gegeneinander antreten ließ, bis nur noch einer lebte. Ich war froh, dass Seezth es zu verstehen schien. Schließlich wusste er, dass ich auch Nio geküsst hatte und ihn mochte. Keine Ahnung wie Nio darauf reagieren würde, aber wer sagte mir, dass ich überhaupt nochmal dazu kam mit ihm zu reden. Seezth war jetzt hier und das war alles was zählte. Vielleicht war ich deswegen ein schlechter Mensch, aber damit konnte ich mich morgen beschäftigen, wenn ich das Blutbad überleben sollte. 
Jetzt wollte ich mich nur an Seezth kuscheln, und seinen regelmäßigen Herzschlag lauschen, dass mir zeigte, dass es ihm gut ging. Als wenn er meine Gedanken gelesen hätte, erhob er sich auch in dem Moment und zog mich mit sich. Bevor ich richtig mitbekam was passiert war, lag ich auch schon auf seiner Brust. Zugedeckt und von seinen Armen an ihn gedrückt, lächelte Seezth mich zufrieden an.
Er drückte seine Lippen gegen meine Stirn.
„Schlaf gut Aice. Alles wird gut.“
Zwar wusste ich, dass nicht alles gut werden konnte, aber ich dankte ihm innerlich für die Worte. Mit ineinander verschränkten Fingern schliefen ich durch den regelmäßigen Schlag seines Herzens bald ein.

Aice Nandina | Wenn Liebe zum Spiel wird Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt