5. Dezember

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"Komm doch mal hierher", bittet Sami mich. Sofort klettere ich zu ihm nach vorne. "Seit wann darf ich hier sitzen?", frage ich überrascht. "Nun ja, du könntest mir helfen das Navi zu lesen." Oh, wie toll! "Cool. Was muss ich tun?" Sami befestigt die Gel der Rentiere und tippt auf das Navi. "Hier ist das Symbol für den nächsten Gegenstand. Es schwebt hier noch gross über der Karte und wie du siehst, ist es gerade über Japan. Je näher wir kommen, desto grösser wird die Karte hinter dem Symbol. So können wir ganz genau bestimmen, wo das Teil ist." Ich sehe mir das Symbol genau an. "Ist das ein Bilderrahmen?" "Genau. Er stand hier", Sami tippt auf eine hellere Stelle auf dem Armaturenbrett, "und auf dem Foto sind der Weihnachtsmann und seine Frau zu sehen." "Dann fliegen wir nach Japan", wiederhole ich. Sami nickt. "Du kannst mir helfen, den richtigen Kurs zu halten. Kennst du die vier Himmelsrichtungen?" "Das hat uns unsere Lehrerin vor ein paar Wochen erklärt: Norden, Süden, Osten und Westen", zähle ich stolz auf. "Falsche Reihenfolge aber es stimmt. Hier sind die Anfangsbuchstaben: N für Norden, E für Osten, S für Süden und W für Westen." Irritiert blicke ich Sami an. "Warum denn E für Osten? Das sollte doch ein O sein!" "Da hast du recht, aber das Navi wurde von einem englischen Elfen gebaut. Und auf Englisch heisst Osten East." "Achso... Und dieser farbige Punkt hier," ich tippe auf den Farbklecks der über das Navi flitzt, "das sind wir?" "Und wir fliegen gerade zu stark nach Norden. Also, lenken wir die Rentiere etwas mehr nach Osten." Sami zupft am recht Zügel, die Rentiere schwenken ein wenig nach Osten und der Punkt ändert seine Richtung.

Von der einsamen Insel bis Japan brauchen wir vier Stunden. Die Rentiere freuen sich anscheinend darauf, denn sie rennen schneller als sonst. Sami hat mir erklärt, dass sie das Gras auf den Dächern der Wolkenkratzer sehr mögen. "Falls wir einen Stopp in den schweizer Alpen einlegen, werden wir mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein", meint er lachend.

Wir fliegen über China und kommen bald nach Japan. Die Karte wird geösser und ich Sami zum Bilderrahmen lotse, merke ich, dass der seine Poition verändert. "Sami, jemand hat den Bilderrahmen mitgenommen." "Oh nein, nicht schon wieder", seufzt er. "So schnell wie der sich bewegt, müssen die mit dem Auto unterwegs sein." "Wohin?" Er bewegt sich auf uns zu und fährt vermutlich in die nächst grössere Stadt. "Wahrscheinlich nach Tokio", vermute ich und aus irgend einem Grund freut sich Sami. "Toll! Die Stadt der ewigen Weihnachtslichter!" Entfernt erinnere ich mich daran, dass Papa mir ein Bild von vielen blinkenden Tafeln und Schildern gezeigt hat. "Sami, das hat doch nichts mit Weihnachten zu tun." Doch er freut sich einfach weiter.

Wir landen auf einem Wolkenkratzer, auf dem ein kleiner Golfplatz ist. Die Rentiere lassen es sich schmecken und wir fahren mit dem Aufzug nach unten. Die Strassen sind voll von Menschen mit dunklen Haaren, schmalen Augen und das Beste: sie sind nicht viel grösser als ich! Einige sogar noch kleiner als Sami und ich. "Wie wollen wir denn hier etwas finden?", frage ich Sami zweifelnd, doch er hört mir gar nicht zu, rennt auf die Strasse hinaus und dreht sich staunend im Kreis. Ich gehe zu ihm und blicke mich auch ein bisschen um. Überall schlingen sich Lichterketten um die Strassenlaternen und blinken in allen Farben, über den Strassen hängen Sterne und in allen Schaufenstern stehen Schneemänner, Rentiere, Elfen und sogar Weihnachtsmänner. Die Menschen sind dick eingepackt und tragen die Schäle bis unter die Nase hochgezogen. "Es ist doch gar nicht so kalt hier?", wundere ich mich. Zuhause sind das hier warme Wintertemperaturen. Etwas beunruhigend sind die hohen Gebäude und die vielen Menschen ja schon. "Sami was mache ich denn, wenn ich dich verliere?" Sami nimmt meine Hand und wir laufen los. Ich stolpere ihm hinterher und er folgt dem Navi. Vor einem Kaufhaus bleibt er stehen. "Hier drinn müsste es sein", sagt er und die Schiebetüren öffnen sich. Wir treten ein und verharren in der riesigen Eingangshalle. Schockiert sehen wir, dass hier sich ein Ramschladen am anderen befindet. So weit das Auge reicht und über mehrere Stockwerke hinweg. "Ach du Scheisse!", seufzen wir gleichzeitig.
"Das könnte ein Weilchen dauern." "Auf in den Kampf!", und wir stürzen uns in den erstbesten Laden. Wir sehen jedes Regal durch, verschieben andere Gegenstände, damit wir in jeden Ecken schauen können und kriechen sogar unter die Ladentheke. Das hat dem Personal aber nicht so gefallen und sie haben uns rausgeschmissen.
"So wird das nichts", sagt Sami nach einer Stunde. "Wir brauchen eine neue Strategie." Aber was? "Hast du das Navi da?", frage ich. Sami nickt und gibt es mir. Ich tippse darauf herum bis der Bilderrahmen erscheint. "Kann das Teil eigentlich auch Etagen unterscheiden?" Sami blickt zweifelnd in die Höhe. "Nein. Dann suchen wir die Stelle und schauen halt alle sieben Stockwerke durch." Seufz... Na dann los. Ich folge dem Navi durch das Gebäude und Sami schaut, dass ich in niemanden reinlaufe. Wir schaffen es, ohne Kollision durch das ganze Einkaufszentrum zu laufen. Bei einem kleinen Laden in der hintersten Ecke bleibe ich stehen. "Hier in diesem Ecken sollte es sein", seufze ich. Sami öffnet die Türe und eine süsse Wolke weht uns entgegen. "Ist ja wiederlich", beschwert er sich. Ich muss ja zugeben, dass es süss ist, aber jetzt übertreibt er. "Joa, es geht." Während Sami noch versucht sich unauffällig die Nase zu zu halten, mache ich mich schon mal daran, die Regale abzuklappern. "Jetzt komm schon Sami! Hilf mir endlich mal!" "Ich komme ja." Sami zieht sich den Schal über die Nase und verschwindet zwischen den Regalen. "Sami, du siehst aus wie ein Dieb. So schmeisst dich der Besitzer noch raus", lache ich ihn aus. Wenn er könnte, würde er mir sicher die Zunge rausstrecken. Schon nach kurzer Zeit verlassen wir den Süssigkeitenladen wieder, unnötig zu erwähnen, dass wir das Teil nicht gefunden haben.
Im nächsten Stockwerk erwartet uns ein Laden voll mit Designerspielzeug. "Oh Gott was soll das denn? Damit kann man ja gar nicht spielen!" "Du würdest dich noch wundern was sich die Kinder alles wünschen", grummelt Sami und geht kopfschüttelnd zum nächsten Regal. Ich sehe mich angewiedert um und betrachte die kitischigen Sachen. Gerade mustere ich ein Gestell von unten nach oben, da blicke ich in die leeren Augen einer Porzellanpuppe. Vor Schreck taumele ich beinahe in die mit Glasfiguren gefüllte Vitrine hinter mir. "Hilfe", keuche ich entsetzt. "Hab nix gefunden", seufzt er. "Ähm, Lilja, gehts dir gut?", fragt er dann leicht amüsiert, als er mich sieht. Ich presse eine Hand auf mein rasendes Herz und mit der anderen zeige ich auf die gruselige Puppe. "Ach das, nur so alter Omakram", winkt er ab. "In einem topaktuellen Designerladen?", frage ich zweifelnd. "Den Leuten fällt nach einer Weile auch nichts mehr neues ein und dann kommen sie mit so altem Kram daher und verkaufen es als den neusten Shit", meint er gleichgültig. "Shit? Was ist das?" "Oh!" Sami schlägt sich die Hand vor den Mund. "Nichts, gar nichts. Hab mich versprochen. Ich meinte natürlich 'den neusten Schrei'." Aha, ein Schimpfwort also... "Ja klar Sami."
Wir verlassen den Laden und laufen zu den nächsten Rolltreppen. "Warum fahren diese verfluchten rollenden Treppen in nur eine Richtung?! Und ausgerechnet nach unten! Nach oben laufen ist doch viel anstrengender!", flucht Sami. "Komm du alter Grummelpeter, da drüben fährt eine nach oben." Ich packe Sami am Ärmel und ziehe ihn hinter mir her. "Du muss nicht gleich alles verfluchen, nur weil du schlechte Laune hast." "Ich fluche wann ich will und jetzt ist mir gerade danach. Ach du heilliger Weihnachtsbart!" "Was ist denn nun schon wieder los?" Etwas genervt drehe ich mich um. Sami liegt ausgestreckt vor mir auf dem Boden. "Sami was soll das? Steh auf du hälst den kompletten Verkehr auf!" "Ich bin gestolpert als ich dir folgen wollte. Ich hab schon immer gesagt, dass diese Dinger gemeingefährlich sind!" Ich breche in schallendes Gelächter aus. Wie kann man den bitte beim verlassen einer Rolltreppe auf die Nase fallen?! Sami findet es anscheinend weniger witzig. Schmollend stapft er an mir vorbei zum nächsten Laden. Immernoch lachend folge ich ihm.
Dieses Mal ist es eine Art Brockenhaus. Hier stehen Möbel und Einrichtungskram der letzten 200 Generationen. Mindestens! Die Dame hinter der Theke begrüsst uns freundlich mit einer Verbeugung. Wir verbeugen uns ebenfalls und verschwinden im Labyrinth der Möbel. Wir suchen und suchen. "Ich habs!", ruft Sami plötzlich. Triumphierend kommt er mit dem Bilderrahmen zurück. "Gut dann müssen wir nur noch bezahlen." Völlig entgeistert sieht er mich an. "Du musst doch nicht für etwas bezahlen was dir schon gehört", protestiert er. "Erklär das mal der Verkäuferin." Die Frau ist auf unser Gespärch aufmerksam geworden und sieht uns verwirrt an. Für eine kurze Erklärung halte ich das Navi direkt neben den Bilderrahmen und es beginnt zu piepsen. Die Frau nickt verstehend, dabei fällt eine graue Haarsträhne aus ihrem Dutt hervor. Schnell streicht sie sie zurück und holt eine Tasche hinter der Verkaufstheke hervor. Sie nimmt Sami den Rahmen aus der Hand, steckt ihn in die Tüte und gibt die Tüte Sami zurück. "Vielen vielen Dank", sagt Sami und verbeugt sich vier Mal hintereinander.
Glücklich verlassen wir das Einkaufszentrum und fahren zurück zum Wolkenkratzer. Sami stellt den Bilderrahmen behutsam zurück auf das Armaturenbrett und befestigt das Navi wieder am Schlitten. "Wo müssen wir denn als nächstes hin?" Sami winkt ab. "Das sehen wir dann morgen. Erst schlafen wir einmal." Erstaunt, dass wir nicht weiterfliegen, setze ich mich zwischen die Rentiere auf das künstliche Gras des Dachgolfplatz. Was ist das überhaupt für eine blöde Idee auf einem Wolkenkrater einen Golfplatz zu bauen? Wenn man daneben schiesst, hat unten auf der Strasse jemand ne Beule!
Plötzlich hören wir eine Stimme, die vom Eingang her kommt. Der Mann, der da steht, schreit auf japanisch herum und es hört sich nicht gerade sehr glücklich an. Entsetzt zerrt Sami mich auf die Beine, scheucht mich in den Schlitten und spannt in windeseile die Rentiere an. Gerade als der Mann, der in der Zwischenzeit verschwunden ist, mit Verstärkung zurück kommt, heben wir gerade ab und gleiten in die Nacht davon. "Haha, Sami hast du sein doofes Gesicht gesehen? Das ist unbezahlbar!", lache ich. "Lilja, wir können froh sein, dass wir losgeflogen sind! Unser nächstes Ziel ist die Schweiz."

Another Christmas StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt