6. Dezember

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"Heureka, da vorne sind die Alpen", ruft Sami mir zu. Ich blicke in die Ferne und entdecke eine lange Bergkette. "Und warum weisst du, dass das da die Alpen sind? Das vorher sah doch genau gleich aus." Sami lacht und lenkt den Schlitten geschickt zwischen den Bergspitzen durch. "Das Navi sagt uns, dass der Rückspiegel in der Nähe eines Dorfes heruntergefallen ist", informiert er mich und keine zehn Minuten später setzten wir zur Landung an. Sanft setzt der Schlitten auf dem Boden auf und wir steigen aus. Hier liegt ein bisschen Schnee und es ist kalt. Ich ziehe meine dicke Winterjacke an. "Frisch hier", bemerkt Sami und legt jedem Rentier eine Decke über den Rücken, damit sie sich nicht erkälten. Ich nehme das Navi und laufe los. Wir laufen durch einen Wald, sehen hie und da ein Eichhörnchen davon huschen. Je näher wir dem Dorf kommen, desto sicherer bin ich mir, Glocken zu hören. "Du Sami, was gongt denn hier die ganze Zeit?" Sami horcht und hebt dann ahnungslos die Schultern. Als es gerade einzudunkeln beginnt, kommen wir aus dem Wald. Wir stehen auf einem Hügel und unten im Tal kann ich Häuser sehen. Erstaunt sehe ich, dass Kinder in meinem Alter mit Laternen zum Wald laufen und dort stehen auch viele Erwachsene stehen. Ein grosses Feuer brennt, es werden Würste grilliert und Tee getrunken. Das Gongen kommt immer näher. Neugierig nähern Sami und ich uns den vielen Menschen und mischen uns unbemerkt unter sie. Die Kinder laufen aufgeregt durcheinander und die Erwachsenen amüsieren sich daran. Dann kommt ein Mann, der die Kinder zu sich ruft. Er sagt ihnen etwas und dann stellen sie sich alle in einer Reihe hin und rufen in den Wald: "Samichlaus im Tannewald, säg chonsch du no ned bald? Es hed das Johr scho zwei Mol gschneit ond sVärsli hani scho zäh Mol gseid."

(*falls es jemand nicht verstand, Übersetzung unten in den Kommentaren)


Darauf werden die Glocken noch lauter. Das Geräusch kommt direkt aus dem Wald. Und dann erscheinen zwei junge Männer in weissen Gewändern, der eine hält ein grosses Buch in der Hand, der andere ein Licht und den Strick des Esels, der neben ihm hergeht. Ihm folgen sechs kleine Zwerge mit lustigen roten Kappen und grünen Pullis. Hinter denen kommen zwei Männer. Der eine trägt ein langes rotes Gewand, hat einen weissen Bart und hat einen Stab in der Hand. Der andere ist komplett schwarz gekleidet, sogar sein Gesicht ist schwarz. Er hat einen Rucksack an, aus dem viele dünne kleine Äste schauen. Und hinter denen beiden laufen sicher zwanzig junge Frauen und Männer mit einer grossen Glocke um den Bauch gehängt. Mit jedem Schritt klingen sie völlig durcheinander. Der Mann in rot wird herzlich von den Kindern begrüsst, vor dem schwarzen laufen sie alle davon. Die Glocken werden abgestellt und die ältesten der Glockenträger nehmen so komische Stöcke mit Seilen daran befestigt hervor. Die Leute gehen erfürchtig zwei Schritte zurück, als sechs von ihnen die Stricke zu Schwingen beginnen. Und dann machen sie plötzlich so Zuckbewegungen, der Strick schletzt auf die andere Seite und macht einen lauten Knall. Zuerst sind alle im gleichen Rhythmus, dann versetzten sich die Knälle und dann ist auch schon wieder fertig.

Eine Frau steht neben mir und sieht mich etwas seltsam an. "Was?", frage ich sie und sehe an mir herab. Sie antwortet etwas, aber ich kann sie nicht verstehen. Sie merkt es, nimmt mich bei der Hand und zieht mich zu einem blonden Jungen. "Hej", sagt er und lächelt mich an. "Du sprichst schwedisch?", frage ich überrascht. Er nickt. "Wo sind deine Eltern?", will er wissen. "Zuhause. Ich bin mit Sami hier." Er lacht. "Nicht Sami. Das ist der Samichlaus", sagt er und deutet auf den Mann in rot. "Nein, Sami, der Weihnachtself. Der da", widerspreche ich. "Kennst du den Samichlaus?" Ich schüttle den Kopf. "Also sieh mal, der Mann da mit dem langen weissen Bart ist der Samichlaus, in Deutschland auch Nikolaus genannt. Er bringt jedes Jahr am 6. Dezember die Geschenke zu den Kindern. Der Mann in schwarz ist der Schmutzli, in Deutschland der Knecht Ruprecht. Er bringt den unartigen Kindern eine Rute. Die Leute, die mit dem Buch und dem Licht gekommen sind, das sind die Diener der beiden. Der Esel trägt die Geschenke und die Geiseln. Die Geiseln sind die Stricke, die die Männer eben geschwungen haben. Und die anderen sind die Triechler", erklärt er mir. "Was sind denn Triechler?" "Das sind die Leute mit den Glocken." Aha... "Aber wieso verteilt der Samichlaus die Geschenke? Das ist doch die Aufgabe des Weihnachtsmannes." "Ja, das stimmt. Aber den heiligen Nikolaus gab es wirklich. Er war Bischof im Gebiet der heutigen Türkei und er hat sich um die Armen gekümmert. Heute ist sein Gedenktag. Die Kinder tragen ihm Gedichte vor und bekommen eine kleine Gabe. Der Schmutzli gibt den Kindern, die unartig waren eine Rute, das sind die dünnen Holzdinger." Ich sehe mir die Personen nochmals an. "Aber den Weihnachtsmann gibt es wirklich", sage ich überzeugt. Wozu sollten wir denn sonst die lange Reise machen und vor allem: Ich habe den Schlitten fliegen sehen!

"Natürlich und der lebt heute noch. Der richtige heilige Nikolaus ist schon lange gestorben. Unter dem Kostüm da drüben steckt ein ganz normaler Mann. Den Weihnachtsmann hat man aber noch nie gesehen." Der junge zieht mich zum Samichlaus und sagt ihm etwas. Der Mann sieht mich freundlich an, greift in seinen grossen Sack, der am Esel befestigt ist und drückt mir eine Tüte in die Hand. "Danke", sage ich und mache mich auf die Suche nach Sami. Ich finde ihn zwischen zwei Bäumen und versucht, an etwas Blinkendes heranzukommen. "Der Rückspiegel ist da oben", schnauft er angestrengt. "Hilf mir mal." Ich ziehe mich an einem Ast hoch und Sami hält unten meinen Schuh fest. Ich berühre den Spiegel mit einem Finger und er fällt hinunter in den Schnee. "Super!" Wir machen uns wieder auf den Weg, ich winke dem Jungen zum Abschied und wir lassen die Leute hinter uns. Während wir laufen, hören wir die Glocken wieder bimbeln und die lauten Knälle der Geiseln. "Du Sami, weisst du, wie der Mann in rot geheissen hat?", frage ich ihn amüsiert. Er schüttelt den Kopf. "Samichlaus." Erstaunt sieht er mich an. "Ein verwandter von mir", meint er dann nur und grinst.

Another Christmas StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt