19. Dezember

29 4 2
                                    

"Schlafsand?" Sami nickt. "Und wo ist der?" Ich blicke nach unten auf die Erde und versuche herauszufinden wo wir sind. "Sibirien." "Wo ist das?" Sami steuert die Rentiere weiter nach osten. "In Russland. Dort ist es sehr kalt und dunkel." Aber diesmal lasse ich mich nicht durch den Schnee ziehen. Der Schlitten setzt sanft auf dem knirschenden Schnee auf. Hier in der Nähe sollte ein Dorf sein, wo sich der Schlafsand verkrochen hat. Vorsichtig mache ich einen Schritt hinaus und prüfe, ob der Schnee mein Gewicht hält. Ja, zum Glück. Diesmal werde ich mich nicht als Pflug betätigen. "Kommst du?", frage ich Sami und gähne. Uh, da bin ich plötzlich ganz schön müde. "Wie war das? Ein bisschen müde?" Sami schupst mich spielerisch und ich taumele gleich davon. Ich hab ja gar keine Kraft mehr. "Nicht so doll, Sami", protestiere ich und gähne schon wieder. "Sag mal, was ist denn das hier eigentlich?" Ich deute auf die goldenen Punkte, die hier herumschwirren. "Was denn?", fragt Sami. Ich fange eine Goldflocke auf. "Wie süss, goldene Schneeflocken." Ich bin so müde, dass ich mich auf den Boden setzen muss. Völlig fasziniert starre ich auf die überall herumschwebenden Schneeflocken. "Oh na super", höre ich Sami grummeln. Er hebt mich hoch und trägt mich zurück zum Schlitten. Er legt mich auf eine Bank und deckt mich zu. "Bin gleich wieder da", verspricht er und dann bin ich schon eingeschlafen.

Ich höre, wie der Deckel der Kiste hinten auf dem Schlitten geöffnet wird und jemand darin herumkramt. "Hat wirklich keinen Platz mehr", schimpft Sami. Der Deckel knallt wieder zu und Sami kommt zu mir. "Wieder wach?", fragt er mich grinsend. "Ja, wie lange hab ich denn geschlafen?" "Wir haben jetzt den 19. Dezember, es ist etwa ein Uhr Nachmittags." Erschrocken setze ich mich auf. "Ich habe einen ganzen Tag geschlafen?" "Es hat so seine Zeit gedauert, den ganzen Schlafsand einzusammeln. Das was du goldene Schneeflocken genannt hast, war in Wirklichkeit der Sand. Kinder sehen ihn so. Erwachsene sehen ihn nicht, schlafen aber trotzdem ein und wir Elfen sehen ihn, wie er eben ist, als grobkörniger Sand. "Dann hat das ganze Dorf da drüben einen Tag gepennt?" Sami nickt. "Eine Frau hat den Beutel ausgekippt weil sie ja dachte, er sei leer. Darauf hat sich der Sand im ganzen Tal verteilt und ich hab bis jetzt gebraucht, um ihn wieder einzusammeln." "Oh, dann bist du jetzt sicher total müde", staune ich. "Nein, bei uns wirkt der Sand auch, aber anstatt uns müde zu machen weckt er uns. Praktisch, nicht?" Na, dann ist ja alles gut. "Aber Hunger hast du schon, oder? Mein Magen knurrt schon richtig laut." Sami greift hinter den Bank und zieht einen Korb voller essen hervor. "Oh lecker!", freue ich mich.

Während wir essen, erzählt Sami, wie er die Sandkörner eingefangen hat. Es war anscheinend nicht schwierig, aber zeitaufwändig. "Was suchen wir eigentlich als nächstes?", frage ich ihn nach einer Weile. "Etwas, was jedes Fahzeug trägt", antwortet er geheimnisvoll. Ach mann, ich mag Ratespiele nicht. "Licht haben wir." Sami nickt bestätigend. "Ein Lenkrad?" "Haben wir theoretisch auch, bei uns sind es einfach Zügel." Ich hirne weiter. "Hat mein Schlitten es auch?" Sami schüttelt den Kopf. "Nur die Fahrzeuge, die auf der Strasse unterwegs sind." Aber wir sind doch gar nie auf einer Strasse gefahren mit dem Weihnachtsschlitten. "Der Weihnachtsmann wollte es haben, er hat es sich vor ein paar Jahren von uns Elfen gewünscht." Also etwas, was am Schlitten befestigt wird. "Du kannst ja noch ein bisschen überlegen, aber wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Heute Abend besuchen wir noch ein Fest." Noch mehr Ratespiele. Ich verdrehe die Augen, setze mich aber auf meine Position und warte auf Sami. "Wohin gehts denn?" "In die Stadt der drei Weltreligionen." Ich habe natürlich keinen blassen Schimmer, wie die heissen könnte. "Wie heisst die denn?" "Jerusalem. Und im jüdischen Teil wird im Moment das Fest Chanukka gefeiert. Ich dachte, wir könnten die Klagemauer besuchen und dabei gleich nach dem Nummernschild Ausschau halten." "Verraten!", rufe ich erfreut. Sami hält sich ertappt die Hand vor den Mund. "Aber tolle Idee. Was brauchen wir dafür?" "Nichts."

Wie immer sind wir null Komma nichts in der Stadt der drei Weltreligionen. "Welche Religionen sind denn hier?" "Das sind der Islam, das Judentum und das Christentum. Die Stadt ist für alle sehr wichtig." Wir halten vor einer langen Mauer. Vor ihr stehen viele Männer und Frauen, allesamt schwarz-weiss angezogen. "Chanukka ist ein acht tägiges Lichterfest", erklärt Sami mir. "Und was feiern sie?", will ich wissen. "Die Wiedereinweihung des zweiten Tempels, den sie hier gebaut haben."

(Ab hier sind die Handlungen reine Fiktion. Diese Bräuche werden beim Chanukka nicht praktiziert!)


"Weisst du, was jetzt kommt?" Sami ist heute echt in Fragestimmung. "Nein, ich hab heute das erste Mal von diesem Fest gehört, also woher soll ich wissen, was man da macht?" Sami lächelt. "Darum möchte ich es dir ja auch zeigen. Um Punkt acht Uhr abends lassen die versammelten Menschen Himmelslaternen steigen. Sie schreiben ihre Gebete auf das dünne Papier der Laterne und schicken die Botschaften so zu ihrem Gott. Gespannt sehe ich zu, wie ein Mann auf ein Podest mitten auf dem Platz tritt und zu sprechen beginnt. "Das ist der Chasan. Er ist der Vorbeter und lässt als erster seine Laterne steigen." Der Mann erzählt etwas, was ich nicht verstehe, aber die Menschen um mich herum senken andächtig die Köpfe und sprechen leise nach. Sie stehen alle in die Richtung der Klagemauer. Dann wird eine grosse Kerze hereingetragen und der Chasan zündet die Kerze der Laterne daran an. Einige Augenblicke später beginnt sie zu steigen. Von der grossen Kerze wird von allen Seiten Feuer abgenommen und weitergereicht. Nach und nach steigen immer mehr Laternen gen Himmel und es sind so viele, dass es beinahe taghell ist. Irgendwoher kommt auch plötzlich Musik und alle beginnen zu singen. Es ist wunderschön mitanzusehen und ich frage mich, ob es bei uns zuhause auch so was gibt. 

Another Christmas StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt