Kapitel 2 - Frau Deckert

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Das Trommeln des Regens weckte mich noch vor meinem Wecker auf, mein Magen fühlte sich flau an und alles drehte sich während ich mich aufsetzte. Die Aufregung muss sich über Nacht aufgebaut haben und direkt zum Aufstehen zuschlagen. Ich eilte ins Bad und bückte mich noch gerade rechtzeitig über die Toilette und betätigte kurz darauf die Spülung. Energisch putzte ich mir die Zähne, um den Geschmack von Erbrochenem aus meinem Mund zu verbannen, doch so richtig schien mir das nicht zu gelingen, vielleicht hatte sich dieser Geschmack schon in mir festgebrannt. Etwas woran ich mich gewöhnt hatte. Ich stellte die Dusche auf besonders kalt und fröstelte als das Wasser auf meine Haut traf, doch es brachte mich runter. Ich spürte wie sich mein Herzschlag verlangsamte und meine Atmung normalisierte. Zehn Minuten später, durchgefroren bis aufs Innerste, stieg ich aus der Dusche und trocknete mich ab so schnell ich konnte, zog mich an und föhnte die Haare. Ich überlegte eine Weile was ich mit ihnen anstellen sollte, entschied mich aber dazu sie einfach auf eine Seite zu föhnen. In Windeseile schminkte ich mich, heute direkt ohne flüssigen Lidstrich und ging nach unten, wo mein Vater schon auf mich wartete. Er schenkte mir dieses warme Lächeln, ein Lächeln was ich in den letzten Wochen am Morgen unheimlich vermisst hatte, da es mir so viel Kraft gab. „Morgen Lill. Du bist heute aber früh dran, ich habe uns Frühstück gemacht", er schenkte mir Kaffee ein und reichte mir einen Pfannkuchen in Herzchenform. „Die hast du aber ewig nicht mehr gemacht!", gierig griff ich nach einem Pfannkuchen und goss Vaters berühmte Karamellsoße darüber. „Ich dachte ich mache dir dein Lieblingsessen, so wie früher auch immer. Wie lang hast du heute Schule? Wollen wir danach was unternehmen?", er sah mich so hoffnungsvoll an, ich mochte noch nicht mal an den Schultag selbst denken und er dachte schon an den Nachmittag danach. Ich stopfte mir ein Stück Pfannkuchen in den Mund und ließ ihn auf meiner Zunge zergehen, mein Vater schaffte es immer sie auf den Punkt genau zu kochen, weich und cremig. „Hm, sie schmecken hervorragend, Dad. Solltest du öfters machen. Ich bin heute gegen 16 Uhr zu Hause, was hast du vor?", im Kopf ging ich meinen Stundenplan durch, die dritte Stunde bereitete mir direkt wieder Magengrummeln, doch ich unterdrückte dieses Gefühl in mir. Vielleicht hatte sich auch alles geändert, wer wusste das schon? Immerhin sind sechs Wochen vergangen. Mein Vater erzählte mir gerade von der neuen Bowlingbahn, die ich auch unbedingt besuchen wollte, als Ben zur Tür hereinkam. „Morgen John. Morgen Lill", ein Schauer überzog meinen Rücken und ich unterdrückte den Zwang aufzuspringen und mich hinter meinem Vater zu verstecken. Mein Vater schaute Ben so nett an, ob er es noch tun würde, wenn er wüsste wie er wirklich ist? „Morgen Ben, gut geschlafen? Was hast du heute Abend vor? Lust auf Bowling?", fragte er Ben. Ich verfluchte meinen Vater, ich dachte wir würden etwas alleine machen, die Zeit gemeinsam genießen. Ben musterte mich mit seinen kalten, herzlosen Augen, ein Grinsen formte sich auf seinem Gesicht und er schaute zu meinem Vater: „Ich habe nichts vor, klingt super! Lill, kommst du auch mit?" Wieso musste er meinen Spitznamen in den Mund nehmen? Den Namen den Mom und Dad mir gaben, sobald ich zur Welt kam? Er wusste genau wie er mich kriegte, dafür hasste ich ihn umso mehr. Bedacht darauf keine Unruhe zu stiften, schaute ich zwischen meinem Vater und Ben hin und her und spielte dann gekonnt eine vergessene Verabredung vor: „Ich habe es total vergessen, Dad. Ich bin nach der Schule schon mit Karla verabredet, aber ich wünsche euch viel Spaß." Mein Vater schaute traurig aus, er ahnte nicht warum ich ihn versetzte, aber Bens Blick verriet mir, dass er genau wusste warum ich plötzlich meine Meinung änderte. Ben grinste mich nur schief an und schnitt sich dann ein Stück vom Pfannkuchen ab, bevor er ihn zur Hälfte in seinen Mund stopfte. Seine dunkelbraunen Augen formten sich zu Schlitzen als er meinem Vater zuhörte und immer wieder Blicke in meine Richtung warf, ihm missfiel die Anwesenheit meines Vaters sehr.

Zwanzig Minuten später, keine Minute zu spät, dafür aber mehr als zu früh, verließ ich das Haus mit schnellen Schritten, ich schaute nicht zurück, drehte mich nicht um. Ich lief so schnell mich meine Beine trugen, so weit weg von diesem Haus wie nur möglich. Hin in Richtung Schule, meiner Sicherheitszone, mit kleinen Ausnahmen. Wer in meinem Alter behauptete schon von sich lieber in der Schule zu sein als zu Hause? Ich. Nicht jeden Tag, aber die meiste Zeit freute ich mich darüber zur Schule zu gehen, Wochenenden glichen einer Qual, jedenfalls bei Bens Anwesenheit. Im Bus traf ich auf Jonas, der aufgeregt seine Hand in die Höhe riss und mir signalisierte sich zu ihm zu setzen. Da sich unsere Blicke schon getroffen haben, konnte ich wohl kaum einen anderen Platz in Anspruch nehmen, also machte ich mich auf den Weg in den hinteren Teil des Busses und setzte mich zu ihm. „Hey Lilly, wie geht's dir?", fragte er mich höflich. Vielleicht war er doch gar nicht so doof, vielleicht würde dieses komische Gefühl was ich in seiner Anwesenheit verspürte noch verschwinden. „Hi Jonas. Mir geht's gut und selbst?", ich hasste Smalltalk, ich hasste ihn wirklich, doch drum rum kam ich einfach nicht. Wir unterhielten uns fast die ganze Busfahrt, etwas was ich seit einem Jahr nicht mehr tat, um ganz genau zu sein seit Karla nicht mehr mit dem Bus fuhr und hörte Dinge, die mich nicht interessierten. Den größten Teil vergaß ich wieder, sobald meine Füße den Asphalt vor der Schule streiften. Erleichtert atmete ich aus und ging zum Hauptgebäude, Jonas im Schlepptau. Karla begrüßte mich mit einer Umarmung, genauso wie Jonas und quatschte ihn direkt zu. Sie schien ihn wirklich interessant zu finden. Finn drehte sich zu mir und verdrehte die Augen: „Mal sehen wie lange sie ihn gut findet." Finns rote Haare wippten beim Gehen schwungvoll auf und ab, es hypnotisierte mich regelrecht. „Du meinst wie lange sie und Timo keinen Kontakt mehr haben? Solange ist Jonas interessant, kennen wir doch schon", ich wusste wovon ich sprach. Karla suchte sich immer eine Ablenkung, wenn sie nicht mehr mit Timo zusammen ist, ein Spiel was sich seit mehreren Jahren immer mal wieder wiederholte. Finn grinste zur Antwort und schlang seinen Arm um mich: „Wie recht du doch hast. Wie ist es mit deinem Dad? Ich war überrascht als du mir geschrieben hast, dass er für eine Woche da ist. Wie kommt's?" Finn, mein Kindergarten- und bester Freund, wusste wie ich mich fühlte, ich brauchte es eigentlich gar nicht aussprechen. „Es ist komisch, er taucht auf und geht dann einfach wieder. Jedes Mal fühlt es sich an, als würde er mich im Stich lassen...", ich unterdrückte die Tränen, den Gedanken daran, dass er bald wieder weg ging. Finn drückte mich an sich und schob mich in den nächsten Gang Richtung Mathematik: „Hat er dir wieder eine Schneekugel mitgebracht? Was wenn du mal mit ihm redest? Ich meine, er könnte doch auch hier vor Ort arbeiten, wurde ihm doch angeboten, oder nicht?" Ich nickte eifrig, doch im Endeffekt machte uns immer das Geld einen Strich durch die Rechnung: „Ja, aber mein Dad sagt wie immer, wir brauchen das Geld. Ich verstehe nicht, warum Theresa nicht einfach arbeiten geht. Sie liegt den ganzen Tag auf der faulen Haut, geht zur Maniküre und ich weiß nicht wohin, aber arbeiten? Nein, natürlich nicht, wäre ja zu viel verlangt. Ach verdammt! Arbeiten!" Ich kramte mein Handy aus der Tasche und checkte meinen Kalender, ich musste heute arbeiten. Finn grinste süffisant: „Na, vergessen dass du heute mit mir zusammen die Regale aufräumen musst?" Finn und ich arbeiteten zusammen beim größten Supermarkt im Ort, eine Arbeit, die ich nicht mochte, aber mir Geld verschaffte, um zu sparen, um so schnell wie möglich aus diesem Haus auszuziehen. Wir bogen um die Ecke, gingen in den Klassenraum 135 und suchten uns einen Platz in der Mitte, in Mathe konnten wir nicht hinten sitzen, ich musste verstehen was der Lehrer uns erklärte.

Midnight Snow - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt