Kapitel 27 - Wovor hast du Angst?

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Das Blut rauschte laut in meinen Ohren, nahm mir jeglichen Hörsinn und verursachte somit einen starken Schwindel. Kurzzeitig erfüllte eine tiefe Schwärze meine Lider und ich kniff panisch die Augen zusammen. Gerade fiel ich unerbitterlich einem Abgrund entgegen, der mich nicht auffangen würde. Ich würde unten in all meine Einzelteile zerschellen. Meine Atmung verdoppelte sich und ich griff mir panisch an den Hals, da spürte ich eine Hand, die sich auf meine Schulter legte. „Ruhig atmen, Lilly. Alles ist gut. Das war nur ein dummer Spruch, hör nicht auf sie. Ich bin hier, atme, mach die Augen wieder auf." Chloes Stimme ertönte in der Nähe meines Ohres und brachte ein wohliges Gefühl mit sich, ich spürte wie mein Körper sich schlagartig entspannte und das nur beim Klang ihrer Stimme. Bewundernswert was für eine Wirkung Chloe auf mich und meinen Körper hatte. Bisweilen konnte ich eine sehr vielseitige Palette an Reaktionen feststellen, sie reichte von Angst, Panik und Scham bis Liebe, Aufregung und Nervosität. „Konzentrier dich auf meine Hand auf deiner Schulter, denk an nichts Anderes!", befahl sie mir und ich lenkte all meine Willenskraft zu ihrer Hand, den Punkt wo sich unsere Körper berührten. Langsam öffnete ich die Augen, regulierte meine Atmung und konzentrierte mich darauf wieder alles um mich herum wahrzunehmen. Ich sah in Chloes besorgten, blauen Augen, die sofort eine Nuance heller wurden als sie auf meine trafen. „Alles okay?", wisperte sie und nahm die Hand von meiner Schulter. Ich schielte zur Seite und sah Anna mit den anderen reden, bildete ich es mir ein oder blickten alle herüber? „Nicht hinschauen! Nicht nachdenken!", ermahnte mich Chloe plötzlich und nahm mir so die Chance mich wieder in Panik aufzulösen. Sie bugsierte mich zu den kleinen Läden am Rande des Platzes und ging ein paar Schritte auf und ab. Ich blieb unschlüssig stehen, wusste nicht ob ich ihr folgen sollte oder nicht, war das eine gute Idee nachdem was Anna eben gesagt hatte? „Kommst du jetzt, oder was? Denk daran, du musst mir auf Schritt und Tritt folgen!", witzelte sie und zwinkerte mir zu. Das Blut waberte nun wieder schön konzentriert in meinem Gesicht und brachte es zum Glühen, Chloe kicherte und ich folgte ihr die Straße hinauf. Wir entfernten uns ein Stück von der Truppe und blieben erst 400 Meter später stehen. Ihr eben noch so weicher Blick wurde ein wenig ernster als sie sich zu mir drehte: „Ihr hättet nicht abhauen sollen..." Ich rechnete mit allem, aber nicht damit. Ich dachte sie fragt mich über Frankie aus, oder über den Abend in der Disco, anstatt dessen redete sie lieber über unsere Flucht. „Ist das deine einzige Sorge?", fragte ich irritiert. Nun sah sie auf und wirkte verwirrt: „Sollte ich mir über etwas anderes Sorgen machen?" Ich fuhr mir mit dem Finger über die Seite meines Halses und blickte starr in das Schaufenster zu meiner Rechten, Bücher über Bücher erstreckten sich vor mir. Alte, aus Massivholz gefertigte Regale ächzten unter dem Gewicht von hunderten von Büchern. Wie mochte es dort drin wohl riechen? „Etwa über das blauhaarige Mädchen?", flüsterte sie neben mir und wirkte niedergeschlagen. Ruckartig drehte ich mich zu ihr um, hob die Hand und legte sie an ihre Wange. Für eine Sekunde vergaßen wir wo wir waren, dann riss sie ihr Gesicht zur Seite und trat einen Schritt zurück. Die Reaktion verletzte mich so sehr, dass mir der Mund offen stehen blieb und ein fieser Schmerz meinen Körper durchzuckte. Sie sah sauer aus und ging noch einen Schritt zurück: „Spinnst du!? Was wenn uns jemand gesehen hätte?" Ohne großartig darüber nachzudenken machte ich wieder einen Schritt auf sie zu und sah ihr tief in die Augen: „Ich bin ein Weirdo, ich hab schon verstanden!" Dann drehte ich mich um und lief in die entgegengesetzte Richtung, aus der wir gekommen waren. „Lilly warte!", rief Chloe mir hinterher und erinnerte mich damit ebenfalls wieder an die Nacht am Big Ben. Dort war sie mir auch hinterhergelaufen, rief mehrmals meine Namen. Doch jetzt fühlte es sich alles so anders an, schmerzhafter. Hätte ich gewusst, dass das alles so viele Probleme, so viel Schmerz mit sich bringt, hätte ich das alles nicht zugelassen.

Meine Füße trugen mich mehrere Straßen weit, in der ganzen Zeit drehte ich mich nicht einmal um, auch wenn sie meinen Namen rief. Die Tränen übermannten mich wieder einmal, peinlich berührt zog ich die Mütze tiefer und wuschelte mir die Haare ins Gesicht. An einer kleinen Kreuzung hielt ich an, um zu verschnaufen, hier fuhr kein Auto, Stille schlug mir entgegen. Ich hörte meinen eigenen Atem nur zu genau und schloss die Augen. Ich musste mich beruhigen, einen klaren Kopf bewahren. Natürlich war es leichtsinnig von mir sie in der Öffentlichkeit so zu berühren, aber ihre Reaktion? Sie hat fast schon angewidert ausgesehen, oder glaubte ich das wegen Anna? Anna nannte mich einen Weirdo und knallte mir ins Gesicht, dass ich Frauen mochte. Was wenn sie das nun allen erzählte? Hat sie mich in der Disco mit Frankie beobachtet? Die eben bezwungene Panik kroch wieder in mir hoch, am meisten machte mir Angst was für Gerüchte sich nun streuen würden. Was wird bis zu Jonas durchsickern, was bis zu Ben? Ob es mir gefiel oder nicht, Ben hatte Kontakte in meiner Schule. Ich wusste nicht genau zu wem und warum, aber er würde es mit Sicherheit auch erfahren. Meine Nackenhaare stellten sich vor Angst auf, ich konnte seine Hand schon um meinen Hals spüren. Ich riss panisch den Schal von mir, um besser atmen zu können, doch es wollte mir nicht so richtig gelingen. Plötzlich wurde ich herumgewirbelt und in Chloes Arme gerissen, ihre Lippen lagen an meinem Hals und sie nuschelte: „Lauf nicht immer weg, Lilly. Es tut mir leid, ich habe Angst bekommen. Ich werde niemals ohne Angst auf uns schauen, verstehst du?! Es ist verboten, Lilly! Es ist eine natürliche Reaktion, auch wenn sie ziemlich...scheiße ist! Ich weiß das! Und ich will dir nicht wehtun, aber bitte...nichts Unüberlegtes tun, okay?" „Uns?", gab ich kleinlaut zurück und schob sie vorsichtig von mir. Nun lief Chloe rot an und sah zu Boden, ihre Antwort war kaum hörbar für mich, doch ich verstand was sie mir sagen wollte. Sie glaubte an ein uns, sie mochte mich. Nun konnte ich ein Grinsen nicht mehr unterdrücken und strahlte übers ganze Gesicht. Sie verzog den Mund und piekte mich in die Hüfte: „Grins nicht so wissend!" Sie biss sich dabei auf die Lippe und wollte mich küssen, ich wusste das, aber ich wich von ihr zurück. Jetzt war sie es die verletzt aussah, doch ich erklärte mich sofort: „Nicht hier, hier könnten uns alle sehen. Heben wir uns das für später auf...?" Grinsend nickte Chloe, schweigend gingen wir zurück zu meiner Klasse. „Was ist das nun für ein Mädchen gewesen? Das mit den blauen Haaren?", fragte sie mich neugierig. Schnaubend warf ich den Kopf in den Nacken und beobachtete die Tauben bei ihrem täglichen Rundflug über London: „Ihr Name ist Frankie. Sie hat mir gestern das weiße Kleid verkauft. Wir trafen uns zufällig in der Disco wieder..." Ich hielt inne da Chloe ein missmutiges Geräusch von sich gab und beobachtete wie Chloe die Stirn dabei hochzog: „Das Kleid...das steht dir so unglaublich gut... na egal, erzählt weiter!" Kichernd blickte ich wieder nach vorne und fuhr fort: „Frankie machte Andeutungen, versuchte mit mir zu flirten, aber ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich wollte nichts von ihr, außerdem waren da die ganzen Leute aus meiner Klasse... und dann bist da du... Als sie sich vorbeugte habe ich mir vorgestellt, dass ich nur deine Lippen auf meinen spüren möchte...und das war der Moment wo ich Abstand zu ihr nahm. Jedoch ließ sie nicht locker, weshalb ich nach draußen verschwand. Dort drehten Anna und ein paar Andere mir den Joint an. Sie stopften ihn mir schon regelrecht in den Mund, also zog ich und trank weiter. Dann fehlt mir ein kurzes Stück, daraufhin war ich in der Halle wo ich wieder auf Frankie traf. Ich war so betrunken, dass...naja...ich bin auf sie zu und stellte mich zwischen ihre Beine. Was soll ich sagen...? Es ist nichts passiert, sie wusch mir den Kopf und ging...", ängstlich blickte ich nach oben, hoffte inständig Chloe damit nicht vertrieben zu haben, aber auf ihrem Gesicht fand ich nur Verständnis. „Lilly, es ist okay. Du musst dich nicht rechtfertigen...solange nichts passiert ist...kann ich damit leben...", sie schien mit sich zu ringen, die Worte nur schwer hervor zu bekommen. Mir dagegen schwebte nur eine Frage durch den Kopf: es missfiel ihr mich mit Anderen zu wissen, aber was war mit ihr und Tara? Wie ging es weiter? Würde sie die Beziehung zu ihr beenden? Durfte ich das überhaupt hoffen oder gar denken? War es egoistisch von mir darüber nachzudenken, unverschämt? Die Worte hingen an meinen Lippen, wollten sich loseisen, Chloe zur Rede stellen, doch da tauchten die Köpfe meiner Kameraden auf und machten diesen Plan zunichte. Niedergeschlagen trottete ich hinter Chloe her und mied die Blicke der anderen. Ich konnte das gerade echt nicht gebrauchen, dieses kindische Drama von Anna. War sie es nicht die mich gestern so eng in den Arm genommen hatte?

Midnight Snow - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt