Kapitel 10 - Aufgeflogen

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Unauffällig schielte ich nach links, nahm die Details von Frau Deckerts feinen Gesichtszügen in mir auf. Nie zuvor ist mir das kleine Muttermal auf ihrer Nase aufgefallen, bei genauerer Betrachtung entpuppte sich das Muttermal zu einer kleinen Schar von Sommersprossen, die nur leicht durch das Puder auf ihrer Nase hindurch schienen. Ihre Lippen sind wohlgeformt, die Oberlippe ist nur leicht gebogen, doch das fällt kaum auf. Ihr Lächeln ist bezaubernd, irgendwas scheint sie zu amüsieren denn sie grinst wie ein Honigkuchenpferd. Langsam wende ich mich wieder ab und betrachte die Straße vor uns, eine lange Schlange von Autos quält sich vor uns die Straße entlang. „Oh nein!", grummelte ich vor mich hin, wieso ausgerechnet heute? „Wir schaffen das schon, ich kenne da einen anderen Weg!", Frau Deckert blinkt nach links und wartet bis keine Autos mehr entgegenkommen, dann biegt sie in eine mir unbekannte Straße ein. Lächelnd dreht sie sich zu mir und schaut in mein erstauntes Gesicht: „Glaub mir, es gibt keinen schnelleren Weg." Sie zwinkert mir zu, so als wollte sie ihre Aussage damit unterstreichen und konzentriert sich dann wieder auf die Straße. Gerade als ich dachte wir verbringen die restliche Fahrt schweigend, ergreift sie wieder das Wort: „Wie geht es deiner Stirn? Ich hoffe du hast heute nicht die Glaswand deiner Dusche mitgenommen?" Frau Deckert schaut kurz zu mir herüber, als wollte sie kontrollieren ob ich ihr auch zuhörte und drehte sich dann wieder weg von mir. Klingt es bescheuert, wenn ich sage, dass mir ihr Blick fehlt? Mir fehlt verdammt noch mal ihr Blick auf mir, ihre Augen machen mich einerseits sowas von nervös und doch wirken sie so beruhigend auf mich. Wieder einmal macht es überhaupt keinen Sinn was ich da von mir gebe. „Der Fehler passiert mir nicht zweimal, der Stirn geht's gut!", ich lache auf und werfe einen Blick auf die Uhr, wir schafften es tatsächlich noch rechtzeitig. Vor uns erblicke ich schon die Umrisse des Supermarktes und uns bleiben noch 8 Minuten bis meine Schicht anfängt. „Habe doch gesagt wir schaffen das", neckt sie mich. Sie neckte mich? Ich lief puterrot an und unterdrückte den Drang mich in meiner Jacke zu verkriechen. Als wir auf dem Parkplatz hielten, machte keiner von uns Anstalten auszusteigen, erst nach einer weiteren Minute der Stille räusperte sie sich und ich wachte aus meiner Trance auf: „Ich sollte gehen. Danke fürs Mitnehmen, ich schulde Ihnen was." Frau Deckert sah mich mit einem unerklärlichen Blick an, sie bemerkte wie ich versuchte ihn zu deuten und schaute deshalb sofort weg. Was sollte das? „Vor allem da du heute zu spät zu meinem Unterricht gekommen bist. Wie wäre es mit einem Kaffee?", sie kam also doch noch darauf zu sprechen, ich grinste. „Gebongt. Was mögen Sie am liebsten? Cappuccino?", fragte ich gespannt. „Was auch immer du magst, Lilly. Es wird mir sicherlich auch schmecken", flirteten wir gerade? In meinem Kopf ratterte es, doch bevor es auch nur Klick machen konnte, öffnete sie die Tür und stieg aus. Ich tat es ihr nach, hob die Hand zum Abschied und eilte ins Gebäude.

„Wo warst du? Hab am Auto gewartet, aber du bist nicht gekommen...hat Jonas dich gebracht?", Finns Mine verdunkelte sich als er von Jonas sprach, ich berührte ihn beruhigend an der Schulter. „Nein, ich...ich bin von Frau Deckert aufgehalten worden, sie hat mich hier hergebracht", gab ich leise von mir. Angst kroch meinen Rücken entlang, Angst jemand könnte das mitbekommen, doch warum sollte es irgendwen stören? Störte es etwa mich selbst? Frau Deckert ist nur hilfsbereit gewesen und brachte mich zur Arbeit, mehr nicht. „Frau Deckert? Die blonde, lockige Frau von der Party? Deine Lehrerin?", seine Augen begannen zu leuchten und mein Magen begann sich zusammenzuknoten. Ich mochte diesen Ausdruck in seinen Augen nicht, ich sah das Verlangen darin, das Verlangen nach Frau Deckert. Handelte es sich da etwa um Eifersucht? Mochte sein. „Hm", entgegnete ich mürrisch und sortierte weiter Konservendosen in das Regal ein. „Gott was würde ich dafür geben bei ihr Unterricht zu haben...geschweige denn in ihrem Auto zu sitzen... Man, vielleicht hätte ich eine Chance bei ihr!", seufzte Finn und schlug mit der Hand gegen den Pfeiler, an dem gestern noch Frau Deckert gelehnt hatte. „Finn", entgegnete ich genervt, „selbst wenn, du bist ein Schüler. Es ist nicht erlaubt eine Beziehung zu führen!" Ich sprach es aus, obwohl es in meinem Herzen schmerzte, aber es entsprach der Wahrheit und die wollte ich wohl nicht nur Finn ins Gesicht knallen. Sie ist unsere Lehrerin, meine Lehrerin, solche Gedanken sollten wir nicht einmal hegen. „Na und? Gibt doch genug Gründe diese Regel zu brechen, oder?", er ließ seinen Bizeps springen und ich lachte hysterisch auf. „Ernsthaft, Finn? Ich kann nicht mehr!", ich krümmte mich vor Lachen und kriegte mich kaum noch ein, Finn schob beleidigt seine Unterlippe nach vorne. „Frauen wissen einen starken Bizeps zu schätzen!", verteidigte er sich, was mich nur noch mehr zum Lachen brachte. „Wer hat dir denn so einen Blödsinn erzählt? Simon?!", kichernd lehnte ich mich an das Regal und schnaufte durch, vor lauter Lachen tat mir schon der Bauch weh. Wieder schmollte er und kam ein Stück auf mich zu, dabei umspielte seine Lippen ein verschwörerisches Grinsen. Mit einem Ruck hob er mich hoch, mir entfuhr ein Schrei, zwar vor Freude und Erstaunen, aber doch ein Schrei. In diesem Moment bog Frau Deckert um die Ecke und sah mich unverwandt an, Finn ließ mich dabei erschrocken los, weshalb ich unsanft auf dem Boden landete. „Aua! Mein Bein!!! Na danke, kaum ist da eine andere Frau, bin ich unwichtig!", gab ich spielerisch zum besten. Ich habe mir nicht wehgetan, doch spielte die Verletzte, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. „Oh Gott, Lilly. Es tut mir sooo, sooo leid! Hast du dir wehgetan?", besorgt musterte er mich und half mir auf. Frau Deckert näherte sich schnellen Schrittes und schubste dabei fast Finn zur Seite, der sie irritiert anblickte. „Alles okay, Lilly? Hast du dich verletzt?", ihre Hand legte sich auf meine Schulter und glitt an meinem Arm hinunter. Eine kräftige Gänsehaut überzog meinen Arm und ich fühlte mich wie festgefroren, nicht mal mein Mund funktionierte. Als sie beide keine Antwort von mir bekamen, wedelte Finn vor meinem Gesicht herum, doch erst als Frau Deckert meine Hand drückte, reagierte ich. „Mir geht es gut, wirklich. Ich...wollte nur...man alles okay!", ich konnte ja jetzt schlecht sagen weshalb ich ihn verarschen wollte, deshalb schwieg ich lieber. Erschrocken über meine eigene Reaktion riss ich meine Hand aus Frau Deckerts, vor allem, weil sie verletzt aussah und stapfte zur Toilette, ich brauchte eine Minute für mich allein. Was löste diese Frau da nur in mir aus? Wieso zehrte ich einerseits nach ihrer Aufmerksamkeit und reagierte dann wiederrum schnippisch? Mein eigenes Verhalten irritierte mich, diese Unsicherheit, diese innere Zerrissenheit. Auf der Toilette atmete ich durch, versuchte meine Atmung zu kontrollieren, doch mein Herz raste noch immer als wäre ich gerade einen 1000m Sprint gelaufen. „Lilly?", Finns Stimme wirkte dünn und besorgt, glaubte er wirklich noch immer ich hätte mich verletzt? Ich seufzte auf und öffnete die Tür. „Es ist alles in Ordnung, ehrlich. Ich wollte dir nur Angst einjagen, mir geht's gut...", meine Stimme brach für eine Sekunde als ich seinen besorgten Blick sah, ich hätte ihn nicht verarschen dürfen. Ohne Antwort zog er mich in seine Arme und strich über meinen Rücken: „Du magst sie, oder?" Mehr sagte er nicht, er drängte mich auch nicht zu antworten, nicht einmal als nach zwei Minuten noch immer keine Antwort kam...obwohl das schon längst Antwort genug gewesen ist. „Tut mir leid, so über sie geredet zu haben", er wusste es, er wusste was ich mir selbst noch nicht mal eingestehen konnte. Wieder sagte ich nichts und Finn hob mein Kinn an, um mir in die Augen schauen zu können: „Lilly...das ist vollkommen in Ordnung, ich wollte dich nicht verletzten mit meiner Aussage. Ich wusste ja nicht...dass du sie magst..." Auf einmal liefen mir die Tränen an den Wangen hinunter, nichts konnte sie mehr aufhalten. Vorsichtig strich er sie fort und nahm mich wieder in den Arm. „Ich...ich weiß es nicht...ich weiß nicht was ich sagen soll...", ich spürte Finns Lächeln an meiner Wange. „Du brauchst gar nichts sagen, Lilly. Dein Blick und deine Reaktion hat mir alles verraten, wir kennen uns wie lange? 13 Jahre? Ich habe es dir angesehen, du magst sie...nicht so wie Jonas...", sein Arm lag noch immer um meine Hüfte und gab mir das Gefühl von Sicherheit. „Ich weiß nicht ob ich sie mag, wie ich sie mag...ich bin so durcheinander, Finn", wieder lächelte er breit. „Wollen wir heute Abend einen Film bei mir schauen? Dann kannst du dich zum einen ablenken und mir erzählen was los ist?", schlug er mir vor. Ich überlegte kurz und dachte an Jonas und Ben, aber vielleicht sollte ich mir einmal keine Gedanken über die Konsequenzen machen. „Kann ich bei dir schlafen?", meine Augen flehten ihn an zuzustimmen, was eigentlich überhaupt nicht nötig ist, da ich bei ihm immer Willkommen bin. „Natürlich, Lilly. Meine Ma wird sich riesig freuen dich wiederzusehen!", er zog mich ein letztes Mal in seine Arme, wischte mir die Tränen fort und bugsierte mich zurück in den Supermarkt. „Sie wartet draußen auf dich", nuschelte er mir zu, kurz bevor ich sie zwischen Toilettenpapier und WC-Reinigern entdeckte. „Wer? Oh Gott, was macht sie noch hier?", fragte ich ihn leise. Er zuckte mit den Schultern und ging Richtung Getränke, ratlos blieb ich stehen bis sie mich erblickte. Mit großen Schritten eilte sie auf mich zu und zog mich in ihre Arme, überfordert von dieser Geste stand ich da wie ein Vollpfosten, meine Arme hingen lose am Körper hinunter. Davon ließ sich Frau Deckert nicht aus der Ruhe bringen, sie drückte noch einmal fest zu, dann schob sie mich von sich, ihre Hände blieben jedoch auf meinen Schultern: „Was ist los Lilly? Hast du dich wirklich nicht verletzt? Ich muss mir ständig Sorgen um dich machen..." Ich zog eine Augenbraue nach oben und musterte ihr besorgtes Gesicht: „Wieso machen Sie sich Sorgen? Dafür gibt es keinen Grund, wirklich nicht. Ich habe mir eben nicht wehgetan, ich wollte nur Finn einen Schrecken einjagen...ich wusste ja nicht..." Ihre Arme sanken von meinen Schultern hinab und sie drehte sich zum Regal rechts von sich, so als brauchte sie noch Toilettenpapier: „Ich dachte...du hast dich verletzt...okay, ich muss los." Warum wirkte sie plötzlich so abweisend und fast schon geknickt? „Frau Deckert?", ich griff automatisch nach ihrer Hand, woraufhin wir beide erschrocken auf unsere Hände blickten. Sofort ließ ich ihre Hand los und schaute sie entschuldigend an: „Es tut mir leid, ich wollte wirklich nur Finn erschrecken, ich habe nicht geahnt, dass noch jemand anderes denken könnte mir sei was passiert." Ihr Blick weichte auf und sie grinste mich schief an: „Wir sehen uns morgen, Lilly. Denk an meinen Kaffee, sonst musst du nachsitzen." Ihr Grinsen brachte auch mich zum Lächeln, ich nickte und sie verschwand im nächsten Gang.

Midnight Snow - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt