Kapitel 35 - Schön, dass es dich gibt

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Kreischende Möwen zogen über uns her, zogen ihre letzten Kreise über die Themse bevor die Sonne unterging. Ich schaute auf die Uhr und nickte Chloe unauffällig zu, meine Kameraden starrten alle gebannt auf ein Spektakel auf dem Picadilly Circus und beachteten mich nicht. Ich genoss die letzten Momente hier in London, die letzte Nacht in einer heilen Welt. Unser letzter Tag brach schneller an als gedacht und ein mulmiges Gefühl ummantelte mich die ganze Zeit über. Ich mochte gar nicht darüber nachdenken was mich zu Hause erwartete, aber vielleicht sollte ich mir heute auch noch keine Gedanken darüber machen, immerhin verbrachte ich den Abend noch mit meiner Familie hier in London und Chloe. Allein der Gedanke Chloe mit zu dem Essen zu nehmen brachte mich zum Lächeln, meine Großmutter bestand darauf und Chloe hatte sich riesig darüber gefreut. Auch wenn sie es als keine große Sache abstempelte, schien sie sehr nervös zu sein. Den ganzen Tag beobachtete ich sie dabei wie sie an ihrer Jacke rumspielte, ihre Locken zwischen den Fingern drehte oder verträumt in den Himmel starrte. Oftmals bekam sie nicht mit wenn sie von Schülern oder Frau Henning angesprochen wurde, ein Zeichen dafür, dass sie gedanklich ganz woanders war. Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und blickte zu Chloe hinüber, sie stand ebenfalls abseits und tippte etwas in ihr Handy. Kurz darauf spürte ich ein Vibrieren in meiner Jackentasche und griff nach meinem Handy, ich sah mich um, entsperrte es und las Chloes Nachricht.

Wann holt Jerry uns ab? - C

Mit zitternden Fingern schrieb ich meine Antwort und steckte das Handy zurück in meine Tasche, ich ging ein paar Schritte auf Fiona zu, die am rechten Rand stand und in der Gegend umher starrte. „Langweilig, oder?", fragte ich sie monoton, richtete meine Augen jedoch auf Chloe. Am Abend auf dem London Eye stellte mir Chloe eine Frage, auf die ich ehrlich gesagt schon lange gewartet habe. Nichts woran ihr jetzt denkt, aber sie wollte meine Nummer haben, einen Umstand, den ich für sehr wichtig empfand. Sie wollte sich damit zum einen absichern, dass es mir gut ging, wenn ich wieder zu Hause war und zum anderen konnten wir so miteinander kommunizieren, wenn wir uns nicht sehen konnten. Grinsend drehte ich meinen Kopf zur tanzenden Truppe vor uns, Fiona seufzte auf: „Ich könnte mir Besseres für unseren letzten Tag vorstellen ja, aber für dich geht es doch auch gleich los zu deiner Großmutter, oder?" Sie drückte meinen Arm und wartete meine Antwort ab, aus den Augenwinkeln sah ich wie Chloe von einem Fuß auf den anderen wechselte. „In einer Stunde, richtig. Nervt nur extrem, dass ich Frau Deckert als Babysitterin mitnehmen muss...", maulte ich gespielt empört und versuchte meinem Ausdruck besonders genervt aussehen zu lassen. „Das verstehe ich! Total übertrieben, immerhin ist es deine Familie, von der wir hier reden! Kannst du dich nicht davonstehlen?", fragte sie neugierig und schielte nun auch in Chloes Richtung. Ich musterte Chloes leicht rötliche Locken, die unter ihrer Mütze hervorschauten und schüttelte den Kopf: „Wie auffällig wäre das denn? Ich hoffe einfach sie haut ab, wenn ich dort angekommen bin!" Innerlich schmerzte es sehr so zu lügen, aber was tat man nicht alles für den Schein, den wir wahren mussten? „Hast Recht, aber du hast noch Glück. Stell dir vor die Henning würde dich begleiten!", grummelte Fiona und ich hustete erschrocken auf. Eine grausige Vorstellung Frau Henning mitzunehmen, anstatt Chloe. „Und wie!", murmelte ich vor mich hin und folgte mit meinen Blicken den Tänzern vor uns. Ich versank vollkommen in Gedanken und bemerkte nicht wie Chloe neben mich trat, erst als ein Ellbogen sich in meine Seite bohrte, blickte ich auf. „Na genug über mich hergezogen?", fragte sie mich gespielt empört und zog eine Augenbraue hoch. Die Röte schoss mir ins Gesicht und ich schüttelte panisch den Kopf: „Bitte versteh das nicht falsch, ich..." Chloe biss sich auf die Lippe und kicherte: „Keine Panik, ich weiß schon warum. Alles gut..." Dann sah auch sie nach vorne und ich checkte meine Umgebung ab, niemand stand mehr in unserer Nähe. Fiona unterhielt sich mit Sara, die ihr etwas auf ihrem Handy zeigte. „Ich wollte nur den Schein wahren...", flüsterte ich und reckte den Kopf, um Interesse an dem Geschehen vor mir vorzutäuschen. „Hey, schon okay...habe ich mir schon gedacht...", antwortete Chloe und schien keineswegs beunruhigt, ich dagegen spürte wie Panik meine Kehle zuschnürte. „Ich...ich...oh man!", stammelte ich und hasste mich dafür kein Wort rauszubekommen. Im nächsten Moment spürte ich eine Hand, die meine sanft umfasste und kurz zudrückte, dann verschwand die Berührung auch so schnell wie sie gekommen war. „Mach dir keine Sorgen, ehrlich! Du hast so getan als würdest du mich nicht mögen, nur um so vom Gegenteil abzulenken. Ich verstehe, okay?", gab sie von sich und sah mir kurz, aber tief in die Augen. Nickend wand ich mich ab und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, ihre Worte hatten mich noch nicht vollends überzeugt. An mir nagte das schlechte Gewissen, solche Worte in den Mund genommen zu haben fühlte sich so falsch an. Chloe ging einige Schritte von mir weg und gesellte sich zu Frau Henning, mein Magengrummeln beruhigte sich nicht und ich verfluchte mich wirklich so etwas gesagt zu haben. „Was wollt die denn?", fragte Fiona teilnahmslos, nachdem sie sich von Sara losgeiest hatte. „Ach nichts Besonderes...", log ich und spürte wie meine Hände schwitzig wurden. „Die mischt sich für meinen Geschmack immer zu sehr in die Angelegenheiten anderer ein...", Fiona klatschte in die Hände als der Auftritt der Gruppe zu Ende ging. Auch ich klatschte, doch in Gedanken wiederholte ich immer wieder Fionas Satz. „Was meinst du damit?", fragte ich Fiona und sah sie kritisch an. Sie runzelte ihre Stirn und musterte mich im Stillen, habe ich mich verraten? „Sie hat das Gespräch mit Mona gesucht, da sie sich so merkwürdig verhalten hat nach dem Discobesuch. Ich finde das geht sie alles überhaupt nichts an, auch mit mir wollte sie reden!", Fionas Groll jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich fragte mich ob Chloe es getan hatte, weil ich ihr davon erzählte. Unauffällig schielte ich zu ihr, doch sie redete angeregt mit Frau Henning und ich verfiel ins Grübeln. „Sie wollte bestimmt nur vermitteln...und wir durften ja eigentlich auch gar nicht feiern gehen und...", fing ich an zu nuscheln, doch Fiona schüttelte den Kopf und schnitt mich mitten im Satz ab. „Nimm Sie doch nicht in Schutz, sie ist eine Lehrerin! Sie soll sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern und nicht so tun als würde sie uns verstehen! Ich glaube Sie hat selbst genug Probleme, hab Sie heute Morgen telefonieren hören!", zischte Fiona mir zu und klopfte sich an die Stirn. „Verrückt die Alte!", beendete sie ihren Monolog und verursachte mir mit ihren Worten Bauchschmerzen. „W-a-aas?", hauchte ich und spürte mein Herz stark gegen meine Brust hämmern. „Erstens: die steht auf Frauen. Zweitens: sie hat mit ihrer Freundin telefoniert, glaube die haben Stress...", erzählte Fiona mir als wäre es nichts Besonderes und drehte sich dann wieder von mir weg, unser Gespräch schien damit beendet zu sein. Chloe hat mit Tara telefoniert? Mein Unwohlsein verstärkte sich und ich schaffte es kaum noch Chloe anzusehen, unfair ich weiß, aber ich konnte nicht anders.

Midnight Snow - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt