Nacht für Nacht

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Harry und ich setzen uns mit unserem Wein auf das gigantische Sofa in seinem Wohnbereich. Ich drohe darin zu versinken, so groß sind die Kissen um mich herum.

Harry nimmt einen Schluck von seinem Wein, sieht angestrengt auf seine Füße, ehe der das komplette Glas austrinkt und wortlos zurück in die Küche geht. Er kommt mit der angebrochenen Weinflasche zurück, setzt sich wieder neben mich und schenkt nach, nur um das zweite Glas ebenfalls in einem Zug zu leeren.

Mir wird flau im Magen.

Das ist kein gutes Zeichen und es tut mir leid, dass ich ihn jetzt quasi dazu nötige mir seine Geschichte zu erzählen. Aber ich drohe an meinen Gedanken zu ersticken. Ich brauche eine klare Antwort.

Erneut schenkt Harry nach, trinkt einen Schluck und sieht mir dann in die Augen.
"Weißt du, dass ich die Regeln breche macht mir selbst ein bisschen Angst", gesteht er und lächelt unsicher. "Ich war nie der Typ für Händchenhalten oder kuscheln, aber mit dir - ich weiß auch nicht. Du stellst irgendetwas mit mir an, Louis".
Mein Herz schwillt an bei seinen Worten und lächelnd greife ich nach seiner Hand. Er entzieht sie mir nicht, richtet seinen Blick aber auf unsere Hände.
"Ich...ich habe den starken Drang dich die ganze Zeit bei mir zu haben. Ich möchte dich berühren, dich küssen und - es ist nicht nur das Sexuelle. Ich könnte dir den ganzen Tag beim Reden zuhören, dich einfach nur ansehen und mein Herz droht mir aus der Brust zu springen".

Meins auch, Harry.

Diese Worte - mein Herz versagt sicherlich gleich, oder ich wache auf und das hier war alles nur ein Traum. Vielleicht liege ich auch im Koma.
Liege ich im Koma?

"Meine Vergangenheit ist nicht schön und hat mir gezeigt, dass man eigentlich niemanden vertrauen darf. Man darf keine Gefühle zulassen und das habe ich eigentlich, bis auf Liam und Niall, ganz gut hinbekommen. Doch dann kommst du um die Ecke und stellst meine ganze Welt auf den Kopf."
Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen.
Wenn er von meinem eigentlichen Job wüsste, dann wäre alles dahin. Er darf es niemals erfahren, denn sonst zerstöre ich nicht nur das alles hier, ich zerstöre auch den Mann neben mir, soviel ist mir bewusst. Ich muss wirklich morgen mit Mister Blake sprechen. Umgehend.

Wieder trinkt Harry einen Schuck, stellt dann das Glas auf den Tisch und zieht mich auf seinen Schoß. Etwas überrumpelt schnappe ich nach Luft, lehne mich dann aber gegen ihn und schmiege mich an seine Brust. Er haucht mir einen Kuss auf meine Schläfe und ich werde zu Wachs.

Ich bin sowas von verliebt in diesen Mann.

"Ich möchte dir erzählen, warum ich so bin wie ich bin. Vielleicht kannst du dann meine Gedankengänge verstehen und auch meine Alpträume".
Geschockt reiße ich meine Augen auf, richte meinen Blick auf den schönen Lockenkopf.
"Harry, du...du musst nicht-"
"Doch", unterbricht er mich und wendet seinen Blick von mir ab. "Doch ich muss, denn das hier läuft in eine Richtung, die ich niemals vorhatte anzustreben und wenn ich mit meiner Geschichte fertig bin und du dann noch immer bei mir bleiben willst, sollten wir darüber sprechen, wie das mit uns weiter geht".

Mir klappt der Mund auf.
Meint er damit das was ich denke?
Himmel Herr Gott, warum spricht er auch immer in so undeutlichen Sätzen. Meint er damit, dass wir dann darüber reden, ob wir aus der Affäre vielleicht mehr machen? Eine...eine Beziehung?
Bei dem Gedanken daran beschleunigt sich mein Herz erneut.
Harry und ich?
Ein leises Lachen ertönt, als Harry mit seinem Zeigefinger meinen Mund wieder schließt. Ich werde rot, was Harry nur noch mehr zum lachen bringt.
"Sei nicht so geschockt, Louis. Der schlimme Teil kommt erst noch".
Und schon ist die Stimmung wieder am Boden.
Harry wirkt wieder nachdenklich, umklammert meine Beine und ich schmiege mich erneut gegen seine Brust. Er schweigt eine Weile, nur das Ticken der Uhr ist zu hören, aber ich wage mich nicht auch nur einen Ton von mir zu geben.
Dann beugt er sich nach vorne, nimmt sein Weinglas wieder in die Hand, lehnt sich zurück und sieht an die Wand. Eine Hand hat er auf meinem Oberschenkel platziert, mit der anderen umklammert er das Weinglas fest.
"Ich hatte keine schöne Kindheit. Ich weiß nicht, ob es schon immer so war, aber ich kann mich nicht an glückliche Zeiten erinnern."
Ich drücke mich enger an ihn, schlinge meinen Arm um seine Brust und versuche ihm so zu zeigen, dass ich da bin.
"Meine Eltern sind nie mit uns in den Urlaub gefahren, oder in einen Freizeitpark. Wir waren immer zu Hause. Das Highlight von meiner Schwester und mir war, wenn wir mal raus in den Garten durften. Wir durften keine Freunde treffen und auch zu uns durfte niemand."
Er hat eine Schwester?
"Unsere Freundschaften bezogen sich nur auf die Schule, was alles natürlich nicht einfach machte. Wir wurden nicht gemobbt, aber wirklich viele Freunde hatten wir nie."
Verständlich, denke ich. Im Kindergarten oder in der Grundschule waren doch die Kindergeburtstage das Highlight schlecht hin. Wenn die Beiden dort niemals hin durften oder keinen veranstaltet haben, dann wurden sie sicherlich ausgegrenzt.

Kinder können grausam sein.

Harry verfällt ins Schweigen und als ich meinen Blick etwas hebe, zieht sich mein Magen erneut zusammen. Er sieht so unfassbar traurig aus und am liebsten würde ich ihn jetzt einfach an mich ziehen und ihm sagen, dass alles gut wird. Aber ich traue mich nicht und ich glaube auch nicht, dass alles gut wird. Ich kann ihm zwar versuchen zu helfen, aber seine Dämonen werden immer bleiben. Er kann versuchen mit ihnen zu leben, aber das Leid kann ich leider nicht entfernen.
"Ich weiß nicht mehr genau wann es anfing, wann der erste Tag war, aber es war früh. Ich bin gerade erst in die Schule gekommen, meine Schwester ging noch in den Kindergarten. Meine Mutter veränderte sich, sprach kaum noch und war sehr schreckhaft. Das habe ich als kleines Kind schon gemerkt und ich hatte mir Sorgen gemacht. Ihre Schreie haben mich Nachts oft wach gehalten und Gemma ebenfalls. Meine Schwester ist dann immer zu mir ins Bett gekommen und gemeinsam haben wir versucht zu schlafen."
Ich schlucke.
Harry musste als kleiner Junge miterleben wie seine Mutter geschlagen wurde. Mein Herz beginnt zu bluten. Wie grausam muss das sein?
"Und dann änderte sich etwas. Es begann schleichend, denke ich. Anfangs kam mein Vater Nachts zu mir ins Zimmer, sah mich einfach nur an und ich habe getan, als wenn ich schlafen würde. Dann legte er sich irgendwann zu mir, schlief neben mir, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war auf meine Mutter einzuprügeln." Sein Gesicht verzieht sich zu einer wütenden Miene.
"Dieser elende Mistkerl hat angefangen sich an mir zu reiben, mich angefasst und mich geküsst".
Zitternd schließe ich meine Augen. Ich habe geahnt, dass sowas kommen wird, aber dass es wirklich so zu sein scheint, ist einfach furchtbar.

Harry schließt seine Augen, presst seine Lippen aufeinander und atmet laut aus.
Langsam schüttelt er den Kopf, seine Hand auf meinem Oberschenkel verkrampft sich, als er das ausspricht, was das schlimmste auf Erden ist.
"Dann hat er mich vergewaltigt. Nacht für Nacht."

SnooperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt