Habe ich doch gerade gesagt, oder?

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Es ist nicht das, was Harry gesagt hat, was mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagt, wobei das Gesagte ein großer Schock ist, den man niemanden wünscht.
Es ist viel mehr die Art und Weise wie Harry diesen Satz ausgesprochen hat.
Er sieht ins Leere, seine Worte verlassen seinen Mund ohne jegliche Emotion und so kalt, als wenn es ihn nicht weniger interessieren könnte.

Ich bin geschockt. Von allem. Ich hatte zwar schon eine Vorahnung, doch niemals in meinem Leben hätte ich damit gerechnet, dass es sein eigener Vater war, der Harry diese schlimmen Dinge angetan hat.

Vorsichtig löse ich mich von ihm, sehe ihn an, doch er weicht meinem Blick aus. Er starrt weiterhin ins Leere, scheint vollkommen in Gedanken zu sein, bis er kurz zusammenzuckt.
"Es war nicht so, dass er mich nur vergewaltigt hat", gesteht er leise und erneut ist keinerlei Emotion bei ihm zu erkennen.
"Manchmal hatte ich Glück und er hat mich nur verprügelt, wenn meine Mutter gerade nicht vor Ort war. Oft ohne Grund, aber auch oft, wenn irgendetwas schief lief oder etwas kaputt gegangen ist. Wenn meine Mutter dabei war, hat sich zwar versucht mich zu schützen, aber ein Blick meines Vaters hat gereicht und meine Mutter hat den Raum verlassen und so getan, als wenn sie nichts bemerken würde."

Grausam.
Mehr kann man dazu nicht sagen.

"Gemma hat er zum Glück nie angerührt", haucht er und erleichtert kuschele ich mich wieder an ihn. Es reicht, wenn ein Kind durch die Hölle geht. Das alleine ist schon schlimm genug.

Es bleibt wieder still und als Harry nicht den Eindruck macht weiter zu sprechen, ergreife ich das Wort.
"Wie bist du aus dieser Hölle entkommen?".
Harry bewegt sich und sieht mich endlich an. Langsam kommen Emotionen zum Vorschein, seine Augen werden feucht, doch er zwingt sich, stark zu bleiben.
Wie oft er das in seinem Leben wohl schon sein musste? Vermutlich kann man es nicht zählen.
"In der Schule ist aufgefallen, dass ich blaue Flecken habe. Irgendjemand hat im Sportunterricht gepetzt und darauf hin wurde ich zum Rektor gerufen, der mich mit einer Krankenschwester aufgefordert hat mich auszuziehen."
Ich greife wieder nach seiner Hand, hauche ihm einen Kuss auf die Fingerknöchel und nicke.
Gut, dass es so gekommen ist.
"Ich habe natürlich gesagt, dass es Unfälle waren, aber sie haben mir nicht geglaubt. Als dann Gemma ebenfalls untersucht wurde, sie bei ihr aber nichts gefunden haben, wurde sie gefragt, ob sie wisse woher die blauen Flecken kommen."
"Und Gemma hat alles erzählt", stelle ich fest und er nickt. "Sie hat das Ganze über Jahre mit angesehen. Sie war zwar noch jung, aber wusste, dass es nicht okay ist was unser Dad dort mit mir macht. Sie haben sie extra aus dem Kindergarten zu uns in die Schule geholt, um sie zu untersuchen. Natürlich wurden meine Eltern informiert und als diese in der Schule ankamen, hat mein Vater sich selbst verraten".
Ich halte meine Luft an, Harry sieht mir wieder in die Augen und ein teuflisches Grinsen bildet sich auf seinen Lippen.
"Er hat mich zu grob am Handgelenk gepackt und mir sofort eine Ohrfeige gegeben, ohne das er wusste, was überhaupt los war. Mein Vater wurde sofort der Polizei übergeben und als wir dann alle eine Aussage machen mussten, habe ich mich endlich getraut auszupacken."
Er senkt seinen Blick, sieht nachdenklich auf unsere Hände, die ineinandergeschlungen sind.
"Danach ging alles ziemlich schnell. Mein Vater wurde ins Gefängnis gesteckt und auch meine Mutter hat eine Freiheitsstrafe wegen Beihilfe bekommen. Anfangs hatte ich Mitleid mit ihr, aber nach und nach sind mir genug Gründe eingefallen, warum diese Frau kein Mitleid verdient hat. Sie hätte das alles viel eher stoppen können, wenn sie nicht so besessen von meinem Vater gewesen wäre. Gemma kam in eine Pflegefamilie und ich in ein Kinderheim. Sie...sie haben uns getrennt und mir...mir den Kontakt zu ihr Untersagt".
Schmerz spiegelt sich in seinen Augen wieder und ich kann nur fassungslos den Kopf schütteln.
Warum macht man sowas?
Warum trennt man Geschwister voneinander, die gemeinsam durch die Hölle gegangen sind?
"Ich habe nie erfahren, wo sie hin kam und irgendwann habe ich den Kampf aufgegeben".
"Es tut mir so leid", flüstere ich leise und sehe ihm in die Augen. "Niemand hat so etwas verdient, Harry. Niemand".
Er zuckt mit den Schultern, lehnt sich wieder gegen die Rückenlehne der Couch und sieht erneut gegen die Wand.

Ich habe noch so viele Fragen, aber ich möchte Harry jetzt nicht überfordern. Ich kann es schon kaum fassen, dass er mir das alles erzählt hat.
Nachdenklich beobachte ich den hübschen Lockenkopf.
Ich würde ihm gerne mein Mitleid aussprechen, aber Harry möchte sicherlich kein Mitleid. Auch können meine Worte nichts an der Situation ändern. Ich kann ihm die Vergangenheit nun Mal nicht nehmen, auch wenn ich es gerne könnte.

"So, das war meine Geschichte", ertönt plötzlich wieder die Stimme von Harry und ich zucke erschrocken zusammen. Ich war viel zu tief in meinen Gedanken.
Ich richte meinen Blick und begegne dem wundervollen Grün seiner Augen.
Die Trauer scheint verschwunden zu sein, beinahe emotionslos sieht er mich an, fast, denn ich kann einen Hauch Unsicherheit auf seinem Gesicht erkennen.
"Ich kann verstehen, wenn du das alles hier jetzt nicht mehr möchtest. Ich bin ein kaputter Mensch mit einer kaputten Seele."
"Harry, Nein!", motze ich, schiebe mich erneut auf seinen Schoß und schüttele den Kopf. Ich umfasse sein Gesicht, sehe ihm in die Augen und erneut verlässt ein "Nein" meine Lippen.
"Sag sowas nicht. Ja, deine Vergangenheit ist grausam und du hast damit zu kämpfen, aber das macht dich nicht zu einem schlimmen Menschen. Du bist wundervoll so wie du bist und das mit deinen Dämonen bekommen wir auch noch hin, oder?".
Der Lockenkopf schluckt, mustert mich und scheint nachzudenken.
"Du musst dir nur von mir helfen lassen, Harry".
Seine Stirn schiebt sich in Falten. "Du willst bei mir bleiben?".
"Habe ich doch gerade gesagt, oder?", möchte ich lachend wissen und ich erwische den Lockenkopf dabei, wie seine Mundwinkel kurz zucken. Seine Hände legen sich auf meine Oberschenkel und da ist er wieder - der intensive Blick, der mich zu Wachs werden lässt.
"Gut, aber dann müssen wir über die Art und Weise dieser Beziehung noch einmal reden".

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