Am nächsten Morgen waren meine Schwestern und ich schon früh auf den Beinen. Artemis hatte am Vortag angekündigt, dass sie mit einigen von uns recht bald auf eine Mission aufbrechen würde. Ich hatte mich in meine Jägerinnen-Uniform geworfen und war gemeinsam mit den Jägerinnen Laurie, Xenia, Noemi und Claire einige Stunden zuvor auf dem Kampffeld eingefunden, da wir am Vortag gemeinsam beschlossen hatten, vor dem gemeinsamen Ausflug mit Artemis ein wenig unsere Künste im Bogenschießen zu verfeinern.
Wir hatten unsere Trainingseinheit gerade beendet und waren ins Lager zurückgekehrt und warteten auf das Zeichen von Artemis, als es plötzlich mitten unter uns einen lauten Knall, gefolgt von einem grellen Lichtblitz, gab. Erschrocken stoben wir auseinander und als sich der Rauch des Blitzes verzog, konnten wir die Gestalt eines Mannes, welche mit einem grellen Licht umgeben war, ausmachen. "Wo ist er?", donnerte die Stimme des leuchtenden Mannes durch das gesamte Lager. "Wo ist die verdammte Brut, die sich Orion schimpft?" Einige meiner Schwestern tauschten verdutzte Blicke und flüsterten. "Mit allem Respekt, Edler Apollo", meldete sich Grace, unser Lieutenant, zu Wort, "weshalb erkundigt ihr Euch nach Orion? Was wollt ihr von unserem Bruder?" Ein spöttisches Lächeln huschte über die Lippen des Gottes. "Euer Bruder? Ihr nennt ihn Bruder? Euer Bruder", er setzte das Wort in Anführungszeichen, "ist gefährlich, respektlos und absolut unehrlich. Er hat sich in meine Schwester verliebt. In meine Schwester, die den Männern abgeschworen hat, um ihre Jungfräulichkeit aufrecht zu erhalten! Er will alles dran setzen, dass sie ihre Jungfräulichkeit aufgibt."
"Edler Apollo", ergriff ich das Wort, "ich bin mir ziemlich sicher, dass die Lady Artemis so etwas niemals tun würde. Außerdem hasst sie die ganze Männerschaft. Sie sieht Orion eher als einen..... Jagdgefährten." "Mein liebes Mädchen", erwiderte Apollo mit ernster Stimme, "meine Schwester Artemis fühlt sich Orion wegen schuldig. Früher oder später wird aus dieser Jagdgemeinschaft sicher mehr. Falls ihr Mädchen mir noch immer keinen Glauben schenken solltet, solltet ihr kurz in Euch gehen und daran denken, dass ich, Apollo, der Gott der Prophezeiungen bin. Ich kann in die Zukunft schauen." Nachdem er dies gesagt hatte, wandte er sich um, ließ uns ohne ein weiteres Wort stehen und durchstreifte das Lager, um seine Suche nach Orion fortzusetzen.
Wie erstarrt standen wir Mädchen dort, wo Apollo uns verlassen hatte. Unser Lieutenant Grace war die erste, die sich wieder bewegte. "Zoë, Claire, ihr kommt mit mir, wir sollten ihm folgen", meinte sie und das taten wir auch. Der Rest unserer Schwestern wünschte uns viel Glück und wir schworen im Gegenzug beim Styx, dass sie alles, was sich noch zutragen sollte, erfahren würden. Dann traten wir die Verfolgung Apollos an.
Schon bald stellte ich fest, dass Grace eine ausgezeichnete Fährtenleserin war. Sie verstand es genau, den Weg, den der Gott der Prophezeiung eingeschlagen hatte, zu finden und kurze Zeit später trafen wir auf Apollo, Artemis und Orion. Artemis hatte sich schützend vor Orion aufgebaut, während Apollo - seltsamerweise bewaffnet mit einem gewaltigen Speer - ihr gegenüberstand und seinen Speer in Richtung unseres Bruders Orion richtete. Wir Mädchen hatten keine genaue Ahnung, was hierfür der ausschlaggebende Grund war, aber wenn wir raten müssten, würde es uns möglicherweise recht schnell einfallen, so viel war sicher. Apollo muss seine Schwester wohl gebeten haben, dass Orion unser Lager verlassen sollte, was Artemis wohl verweigert hatte. Im Gegenzug hatte wohl Apollo versucht, dem riesenhaften Orion zu schaden. Und nun ist Artemis also wütend auf ihren Bruder und dieser ist wütend auf Orion..... ein wenig kompliziert, nicht wahr?
Wir stellten uns ein weniger näher beschützend um unsere Göttin herum, als diese anfing, mit lauter Stimme auf Apollo einzureden. "Orion ist ein Teil unserer Jagdgesellschaft", schimpfte sie, "egal, was Du sagst, Bruder, er bleibt!" "Arty, Arty, Arty, Du scheinst es nicht zu begreifen", hielt Apollo dagegen, "ich will Dir doch nicht schaden - im Gegenteil, versuche ich sogar, Dich vor diesem.... Monster zu beschützen. Er bedeutet nichts als Ärger und Scherereien für Dich und deine Mädchen. Er liebt Dich. Und eines Tages, da wirst Du das auch tun." "Nenn. Mich. Nicht. Noch. Einmal. Arty", explodierte Artemis und dann ging plötzlich alles recht schnell. Artemis hielt plötzlich ihren Bogen in ihrer Hand und zielte auf ihren Bruder, welcher nun seinerseits einen Pfeil auf Orion abgeschossen hatte, der sein Ziel jedoch verfehlte und in einem Baum landete. Das machte Artemis nur noch wütender, doch plötzlich griff Orion selbst ins Geschehen ein. "Hört auf", rief er. Daran lag so viel Macht, dass die beiden Zwillingsgottheiten mit dem, was sie taten, aufhörten und sich ihm zuwandten. In Orions Blick, den er auf unsere Göttin richtete, lag eine gewisse Spur von..... tiefer Schuld und immenser Traurigkeit, dass ich ihn am liebsten vor jedem verteidigen würde, doch das würde unsere allererste Regel brechen. "Ich muss mich entschuldigen", drang nun die Stimme Orions in mein Ohr. "Ich muss mich bei Euch allen und vor allem bei Lady Artemis entschuldigen." Orion ließ sich vor Artemis auf die Knie fallen und sagte mit leiser Stimme: "Es tut mir leid, Lady Artemis, aber Euer Bruder hier hat recht. Ich habe mich in Euch verliebt und habe stets versucht, diese Gefühle nicht an mich heranzulassen, da ich weiß, dass ihr Eure Jungfräulichkeit erhalten wollt. Aber - bitte vergebt mir - ich liebe Euch. Ich liebe euch und wenn ich so ehrlich sein darf, muss ich zugeben, dass ich das schon seit langer Zeit tue." Nachdem er sein Geständnis abgelegt hatte, brach er in Tränen aus und stammelte noch einmal ein leises "Entschuldigt....".
Da standen wir alle also nun. Orion tief traurig und wahrscheinlich voller Wut auf sich und Artemis - wahrscheinlich zum ersten Mal - fassungslos. Nur Apollo schien dies gewusst zu haben, denn ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, verlor sich aber wieder schnell, als er den noch immer am Boden knienden Orion ansprach. "Nun hast Du also die Liebe, die du für meine Schwester empfindest, also zugegeben. Wir alle haben sie gehört und Du kannst sie weder widerrufen, noch als Lüge abstempeln. Denn deine Gefühle für meine Schwester entsprechen der Wahrheit. Ich weiß das, denn ich kann es spüren. Es ist nun an Dir, das Lager meiner Schwester ohne Umschweife zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Bleibst Du allerdings, verstößt Du gegen deine eigenen Regeln." "Halt", ergriff Artemis das Wort, "ich weiß nicht, was Du dir anmaßt, lieber Bruder, aber nur ich habe das Recht, jemanden zu entlassen. Schließlich bin ich die Göttin der Jagd und nicht du. Und ich verspreche, dass ich mein Amt als Anführerin der Jägerinnen niemals aufgeben werde. Und nun, mein Bruder, falls Du nicht noch etwas zu sagen hast, empfehle ich Dir, mein Lager zu verlassen. Jetzt. Sofort", fügte sie schärfer hinzu, als Apollo noch nicht reagierte. Er warf einen geheimnisvollen letzten Blick auf Artemis und verschwand dann genau so, wie er gekommen war: in einem hellen Lichtblitz.Nachdem wir mit Grace wieder bei den Bogenschießanlagen angekommen waren, bestürmten uns die anderen Jägerinnen zugleich mit ihren Fragen. "Was ist passiert? Was habt ihr gesehen? Ist mit Orion alles in Ordnung?" Wir hatten Mühe, sie zu besänftigen, doch als wir das geschafft hatten, erzählte Grace ihnen die komplette Geschichte. "Orion ist noch Teil unserer Familie", erklärte Grace, "aber wir können leider nicht abschätzen, wie lange es dauern wird, bis der Gott Apollo erneut versuchen wird, Orion zu erledigen. Wir alle sollten es als unsere Aufgabe ansehen, unsere Lady Artemis und unseren Bruder Orion zu beschützen", vollendete sie ihre Erzählung.
Ein lautes Horn schallte durch das gesamte Lager. Es war Zeit zum Mittagessen. Doch ich bekam keinen anständigen Bissen hinunter. Zu sehr beschäftigte mich die Frage, ob es Artemis und Orion aktuell wirklich gut ging....
DU LIEST GERADE
The Life of Zoë Nightshade
FantasyMan könnte schon sagen, dass mein Leben in gewisser Art und Weise.... ein wenig speziell gewesen war. Ach, was heißt "ein wenig"? Als Tochter der Göttin Pleione und des Titanen Atlas, sollte mein Leben doch ausgefüllt sein, oder? Und dennoch.... ich...