Eine gewisse Spur von Traurigkeit lag über dem Lager, als wir beim ersten Sonnenstrahl des folgenden Tages unsere Zelte verließen. Viele von uns hatten eine ganze Zeitlang mit Orion verbracht, hatten mit ihm trainiert, Übungskämpfe abgehalten und mit ihm gemeinsam gegessen. Für einige war er - bevor er durch Apollos Fluch - zu einem wahnsinnigen und bösen Kämpfer wurde - so etwas wie ein Bruder gewesen. Ein richtiger Bruder, nicht nur im Geiste. Doch dann hatte Apollo durch den ihm auferlegten Fluch alles geändert. Orion war zu einem wahren Schlächter geworden und hat nicht einmal Halt vor uns gemacht. Doch, dass es seine Mutter war, die Erdengöttin Gaia, die den Auftrag gab, sein Leben zu beenden, versetzte uns alle mehr oder weniger in großen Schock. Klar - wir alle hatten so etwas wie einen kleinen Wettstreit untereinander ausgetragen, wie wir uns seinen Tod vorstellten, aber wir taten dies nicht ohne einen kleinen Anflug von Reue. Das Letzte, was wir für unseren gefallenen Bruder tun konnten, war ihm eine ordnungsgemäße und anständige Bestattung zu geben.
Als ich auf den Weg zum Speisezelt war, begegnete ich Grace, Amelie, Marie und Selene, die denselben Weg hatten wie ich. Wir nickten uns in einem stummen Gruß zu - keiner von uns sagte ein Wort. Auch das Speisezelt, welches normalerweise mit einem fröhlichen Plausch unter den Mädchen gefüllt war, schien ausnahmsweise stumm zu sein. Kein Gelächter, keine Gespräche zu hören. Ich konnte die gesenkten Köpfe der älteren Jägerinnen entdecken, die trostlos und abwesend in ihrem Essen herumpickten und im Gegenzug die Jüngeren von uns, die ihnen mit Beklommenheit und Unverständnis begegneten. Sie hatten Orion nicht so gut gekannt wie wir, waren nur dabei gewesen, als er aus Wut und Rage das alte Lager beinahe in Schutt und Asche gelegt hatte. Grace, ich und die anderen Mädchen setzten uns mitsamt unserem Essen an unseren Tisch, als Artemis das Zelt betrat. In ihrem Gesicht waren deutlich der Verlust, Ärger und Traurigkeit zu erkennen und es schien so, als ob sie geweint hatte. "Mädchen", sagte sie, "ich weiß, die meisten von Euch kennen Orion als blutdürstiges und willkürlich tötendes Monster, ich hingegen, ich erinnere mich an seine exzellente Treffsicherheit im Kampf und seine Freundlichkeit. Ganz gleich, in welcher Form ihr Orion angetroffen habt, es steht Euch frei, euch an ihn zu erinnern. Für heute habe ich keine Mission für Euch." Sie setzte sich still auf ihren Platz und ich konnte erkennen, dass sie mit aller Kraft versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
Nach unserem gemeinsamen Frühstück, von welchem wir alle noch reichlich etwas übrig gelassen hatten, versammelten wir uns rund um das prasselnde Lagerfeuer. Die jüngeren Jägerinnen gesellten sich zu uns und auch Artemis kam nach einer Weile hinzu. Sie sah nun wieder etwas besser, etwas gefasster aus. "Haben es alle bequem und gemütlich?", fragte Grace in die Runde und alle antworteten mit einem Nicken. "Dann bitte, Edle Artemis", sagte sie ernst. "Das Wort gehört Euch."
Artemis erhob sich, holte tief Luft und begann dann mit ihrer Erzählung: "Als Ich Orion an meiner und Apollos Geburtsstätte begegnete, auf dem heiligen Land der Insel Delos entdeckte, war ich wütend. Wütend, weil ich ihn für einen widerlichen Normalsterblichen hielt, der die Insel erkunden wollte. Als ich jedoch entdeckte, dass Orion ein Gigant war, der Gigant, der mich und meinen Bruder bekämpfen sollte, geriet ich nur noch mehr in Zorn. Ich schoss einen Pfeil auf ihn ab, um ihn zu warnen und er respektierte sie offenbar. Mir fiel auf, dass ein merkwürdiger Glanz in seinen Augen lag, auf seinem trug er einen Köcher, gefüllt mit Pfeilen und an seinem Gürtel hingen ein Jagdmesser und sein nackter Bauch war mit unzähligen Narben übersät. Er erkannte mich nicht und doch war etwas in seinen Augen, was mich..... um ehrlich zu sein, zu ihm hinzog. Orion entschuldigte sich für das Betreten des heiligen Ortes und, dass er nur eine Bleibe für die Nacht suchte. Er erzählte auch, dass er den Vorgaben seiner Mutter Gaia nicht folgte, auch hatte er nicht am großen Krieg teilgenommen, stattdessen war er ins Königreich Chios gereist und wurde - unter dem Regime des Königs Oinopin - ein königlicher Jäger. Er hatte Interesse an Prinzessin Merope gezeigt, doch König Oinopin dachte nicht daran, ihm seine Tochter zur Gemahlin zu geben. Stattdessen trug es sich zu, dass der König eine List ersann, welche Orion das Augenlicht nahm. Der König verbannte ihn aus seinem Reich." Artemis machte eine kurze Pause, holte erneut tief Luft und sprach weiter: "Orion war dazu verdammt, für Jahrhunderte blind durch die Welt zu reisen, bis er von Hephaistos gefunden wurde, der ihm seine mechanischen Augen gab und seinen Bogen vergiftete. Fasziniert von seiner Geschichte, bat ich ihn, mir seine Fähigkeiten im Bogenschießen zu demonstrieren und ich muss wirklich sagen, dass er mich mit seinem Können beeindruckt hatte. Ich ließ ihn schwören, dass er Euch Mädchen respektiert, damit ich ihn in unseren Kreis aufnehme. Den Rest der Geschichte kennt die Meisten von euch - ich brachte Orion damals in unser Lager, nachdem er schwor, sich an meine Regeln zu halten."
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The Life of Zoë Nightshade
FantasyMan könnte schon sagen, dass mein Leben in gewisser Art und Weise.... ein wenig speziell gewesen war. Ach, was heißt "ein wenig"? Als Tochter der Göttin Pleione und des Titanen Atlas, sollte mein Leben doch ausgefüllt sein, oder? Und dennoch.... ich...