KAPITEL 10 | AUDEN

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Lynette und Maurice haben Hunger.

So großen Hunger, dass sie den Eindruck machen, als würden sie zur Not mich aufessen, wenn sie nicht sofort etwas bekommen.

Der Kühlschrank ist leer, Dad hat wahrscheinlich das restliche Geld mit in irgendeine Bar genommen und Mom sitzt im Wohnzimmer und ist betrunken. So habe ich mir den Abend nach der Wohltätigkeitsveranstaltung nicht wirklich vorgestellt, aber überrascht bin ich auch nicht. Immerhin kommt Mom seit Tagen nicht aus dem Wohnzimmer heraus und Dad habe ich ebenfalls schon eine Weile lang nicht mehr gesehen.

Eigentlich habe ich mir den ganzen Tag anders vorgestellt, aber ich bin auch irgendwie schuld daran, warum er so verlaufen ist. Ich werfe Maya ihre Unfreundlichkeit vorhin nicht einmal vor, denn ich habe mich streng genommen in den letzten Wochen nicht besser verhalten. Sie an mich heranzulassen, kommt für mich einfach überhaupt nicht infrage. Irgendwie ist es aber auch egal, was ich mache, denn sie findet sowieso immer wieder einen Weg, sich in mein eingerostetes Herz zu schleichen.

Ob sie weiß, wie unwiderstehlich sie sein kann, wenn sie wütend ist? Ihre blauen Augen waren dunkler als sonst, ihr rundliches Gesicht verkniffener und ihre Lippen sind zu einer schmalen Linie zusammengepresst gewesen. Obwohl sie sonst immer ein wenig tollpatschig und unsicher herüberkommt, ist sie vorhin das genaue Gegenteil davon gewesen.

»Je veux manger«, ist alles, was Maurice sagt, während er sich den Bauch hält.

Ich könnte jetzt Porter anrufen, der sofort mit Geld, Essen und seiner guten Laune kommen würde, aber ich kann nicht, weil ich sowieso schon zu spät bin. Die Kampfhandschuhe hängen über den Stuhl gelehnt, so wie immer, wenn ich kurz davor bin zu gehen, weshalb Lyn und Auri gar nicht mehr nachfragen, wofür sie sind.

Zwar lasse ich meine Geschwister nur ungern allein, aber ich kann sie nicht mitnehmen, weil es in der Halle noch gefährlicher ist als in unserer eigenen Drei-Zimmer-Wohnung.

»Ich muss jetzt los«, werfe ich ein, wofür ich deren traurigen Gesichter ernten muss. »Wenn ich zurückkomme, bringe ich euch etwas zum Essen mit, okay? Versprochen.«

Lynette klopft mit ihren Fäusten auf dem Küchentisch herum. »Je n'ai pas mangé depuis ce matin, Auden.«

Auri nickt bekräftigend und ich weiß nicht so ganz, was ich machen soll, damit ich deren Bauchknurren nicht mehr hören muss.

Es fällt mir schwer, die Wohnung mit den Kampfhandschuhen und der Sporttasche zu verlassen und in mein Auto zu steigen, das die ersten drei Male nicht einmal anspringt. Noch schwerer fällt es mir allerdings, das Virginia Fight Viper zu betreten, vor dem unzählige Autos geparkt haben. Meine Hände zittern, weshalb ich die Sporttasche und die Handschuhe fester umfasse.

Man erkennt es wahrscheinlich trotzdem noch.

Kyler wäre an der Veranstaltung fast dahintergekommen, was ich heute noch vorhabe, aber irgendwie habe ich es geschafft, ihn abzuhängen. Er hat seltsame Fragen gestellt, Fragen, die ohne zu viel Misstrauen seinerseits nicht entstehen könnten. Auch Porter ahnt etwas, aber so schnell würde er nicht dahinterkommen. Es sollte jedenfalls nicht seine erste Vermutung sein, dass ich in ziemlich illegale Geschäfte mit seinem großen Bruder geraten bin.

Roamer Sinclair steht im Türrahmen meiner Umkleidekabine. Er telefoniert mit irgendjemandem, gestikuliert dabei stark mit seinen Händen herum oder streicht seinen makellosen Anzug glatt. Wie immer, wenn wir uns mindestens einmal in der Woche sehen müssen, erinnert er mich an eine ältere Version von Porter.

Vom Charakter her sind sie jedoch völlig unterschiedlich.

Porter ist fürsorglich und offen, während Roamer noch mehr Kälte und Distanz ausstrahlt als ich. Er trägt so viel Bitterkeit in sich, dass man es beinahe schmecken kann.

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