KAPITEL 19 | AUDEN

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Herzinfarkt.

Mein Dad hatte einen verdammten Herzinfarkt.

Der Mann, der seine Morgen, Mittage und Abende seit Jahren in der Bar verbracht hat, ist seit zwei Stunden tot. Obwohl ich Matthew Villeneuve sowieso so gut wie nie zu Gesicht bekommen habe, glaube ich in diesem Moment an Trauer zu ersticken. Es ist sogar so schlimm, dass ich kurz davor bin, Maya zu fragen, ob sie fahren will, auch wenn sie noch nicht einmal einen Führerschein besitzt.

›Surreal‹ ist das Wort, womit ich diese ganze Situation beschreiben müsste. Nicht, als wäre es ein schlechter Witz, sondern eher als wäre es ein schlimmer Alptraum.

Zitternd fahre ich mir mit meiner linken Hand einmal über das Gesicht. Dad geht meiner Mom seit Jahren aus dem Weg, weil die beiden zwar nicht miteinander klarkommen, aber wohl auch noch nicht daran gedacht haben, sich einfach scheiden zu lassen. Stattdessen schlucken sie ihren Frust mit Alkohol herunter ― mein Dad in der Bar und meine Mom im Wohnzimmer auf ihrem altbekannten Sessel.

Nur gestern ist sie für Lynette, Maurice und mich aufgestanden und in die Küche gegangen. Sie hat sich tatsächlich aufgerafft, für uns gekocht und wollte wenigstens einen kleinen Teil unseres Konflikts reparieren. Und Dads Tod hat das mit Sicherheit wieder zunichtegemacht.

Zwar hätte ich vor Wut und Trauer am liebsten auf das Lenkrad eingeschlagen, aber ich gebe mich vorerst damit zufrieden laut zu fluchen. »Quelle putain de merde! Ça ne peut pas être vrai. Merde!«

»Auden!« Maya krallt sich neben mich auf dem Beifahrersitz fest und sieht mich panisch an. »Du weißt, wie sehr es mir normalerweise gefällt, wenn du Französisch sprichst, aber gerade macht es mich wahnsinnig. Außerdem sind wir viel zu schnell. Könntest du bitte etwas langsamer fahren? Auden, bitte

Ich nehme den Fuß vom Gaspedal und atme einmal tief durch. Maya in den Tod zu fahren, ist wirklich nicht das, was ich mit meinem Ausbruch bezwecken möchte. Außerdem wirkt sie ehrlich verängstigt. Aber ihre Angst gilt doch nicht mir, oder?

Mein Handy schrillt erneut, aber diesmal nur kurz. »Kannst du nachsehen, wer geschrieben hat?«

»Ich soll in deine hintere Hosentasche greifen?«, murmelt Maya zunächst zögernd. Dann streckt sie ihre kleine Hand aus und vergräbt sie so tief, dass ich kurz die Augen aufreiße, weil ich ihre Berührung an meinem Hintern ein wenig zu intensiv spüre. Maya lächelt wissend und zieht das Handy hervor. »Ja, das war mit Absicht, um dich wenigstens für drei Sekunden abzulenken.«

Funktioniert hat es auf jeden Fall. Für drei Sekunden.

»Porter sagt nur Bescheid, dass Lynette und Maurice bei seiner Grandma sind«, sagt Maya, ohne vom Display aufzusehen. »Und dann hat er ein Bild geschickt, wie sie alle zu seinen Schallplatten tanzen. Willst du ihm selbst sagen, was ... was passiert ist?«

Will ich das? Gerade weiß ich ja nicht einmal, warum ich überhaupt zu mir nach Hause fahre. Mit Maya wohlbemerkt, die mit Sicherheit lieber im Schreibkurs wäre. Meine Geschwister sind nicht einmal da, denn das wäre das Erste, was ich getan hätte: Sie so schnell wie möglich von Mom wegzubringen. Chloé Villeneuve ist unberechenbar, wenn sie noch mehr trinkt als sonst. Lynette hat oft genug Alpträume von unserer Mom, wie sie schreiend durch die Wohnung rennt und Dinge kaputt macht.

»Hier wohnst du?«, flüstert Maya mit großen Augen, als ich vor dem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus parke. Sie versucht sich ihr Mitgefühl nicht anmerken zu lassen und dreht mit neutraler Miene den Kopf zu mir. »Darf ich mitkommen?«

Meine Hände zittern nicht mehr so stark, als sie mich mit ihren warmen Augen, die jetzt fast dunkelblau wirken, anblickt. »Ich hätte gedacht, du bestehst sogar darauf mitzukommen.«

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