Kapitel 94

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Macaulay

Leute sagen, dass das Gefühl, das man genau vor einem Kampf oder während einem bekommt, das Größte ist. Denn es lässt dich lebendig fühlen. Es lässt dich jeden einzelnen Atemzug intensiver spüren und plötzlich fühlst du dich so am Leben wie noch nie zuvor. So als ob du das erste Mal die Augen geöffnet hättest und ins gleißende Sonnenlicht schauen würdest. Dein ganzer Körper unter Strom, jede einzelne Zelle deines Körpers vibrierte. Jedes einzelne Mal wenn ich boxte, spürte ich dieses verdammte Gefühl und es war ein Teil weshalb ich das Boxen so sehr liebte. Mein ganzes Leben lang gab es nichts annähernd Vergleichbares was meinen Körper so sehr unter Strom setzte, mich aus meiner inneren Dunkelheit herausholte und mich daran erinnerte, dass ich verdammt noch mal am Leben war.

Doch genau in diesem Moment, genau ab dem Moment in dem meine Lippen die von Ella berührten, war das Gefühl wieder da. Nur dieses Mal war es noch intensiver. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich dieses Gefühl auch außerhalb des Rings. Genau hier, in diesem Moment fühlte ich mich so am Leben, wie ich es zuvor nur beim Boxen gespürt hatte.

Ich halte ihr Gesicht zwischen meinen Händen, während ich sie mit so einer Intensität küsse, dass ich Angst habe sie zu zerbrechen. Aber ich kann nicht anders. Ich kann einfach nicht. Meine Lippen bewegen sich in einem sanften Rhythmus auf ihren, meine Zunge gleitet in ihren Mund. Ich küsse sie so als ob ich mein Leben lang nie etwas anderes getan hätte. So als ob ich dazu geboren worden bin, sie zu küssen. Ein leises Wimmern dringt aus ihrem Mund, als ich mich schließlich von ihr löse. Ihre Augen sind leicht geweitet, ihr Gesicht gerötet. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. „Hab ich dir schonmal gesagt, dass du mein Sonnenschein bist?", frage ich sie sanft, während ich mit meinen Daumen leichte Kreise an ihren Wangen ziehe.

Sie schaut mich nur an, ihre Lippen leicht geöffnet.

„Weißt du...?", beginne ich erneut zu sprechen, bevor ich einen Kuss auf ihre Schläfe drücke und langsam ihr Gesicht herunter wandere, bis ich schließlich wieder bei ihrem Lippen angekommen bin. Meine Lippen schweben Millimeter über ihren. „Dass es immer zwei Wölfe in einem gibt, die miteinander kämpfen. Einer ist Dunkelheit und reine Verzweiflung, der andere Licht und Hoffnung. Die Frage ist aber, welcher Wolf gewinnt?", flüstere ich, dann presse ich einen letzten sanften Kuss auf ihre Lippen und löse mich von ihr.

„Den, den man füttert."

Ich stehe auf und laufe schließlich zur Tür. Dann öffne ich sie. Zu spät realisiere ich, dass Boyd noch vor der Tür steht. Erst, als seine Faust in meinem Gesicht landet, bemerke ich meinen Fehler. Meine Faust schnellt ebenfalls nach vorn und landet mit einem Knacken in seinem Gesicht

***

„Sie sind zehn Minuten zu spät, Mister Macaulay. Er wartet schon den ganzen Morgen auf Sie.", Mrs. Dunn, die Leitung des Kinderheims dreht sich zu mir, als ich durch die große Eingangstür stürme. „Jesus Christus!", schreit sie plötzlich aus, als ich vor ihr stehen bleibe, ihre Augen sind weit aufgerissen. „Was haben Sie mit ihrem Gesicht gemacht? Sie waren doch nicht etwa in einer Schlägerei verwickelt?!", ihre Stimme überschlägt sich um einige Oktaven.

Fuck!

Ich schüttele den Kopf. „Ich bin gegen eine Tür gelaufen."

„Pah", Mrs Dunn schnaubt „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass ausgerechnet Sie gegen eine Tür gelaufen sind! St Andrew's sind nicht die Einzigen, die ihren medizinischen Bericht gesehen haben. Wenn ich mich recht erinnere, dann sind Sie seit zwei Jahren in psychologischer Behandlung. Einer der Gründe war ein Aggressionsproblem, wenn ich nicht falsch liege."

Ich beiße mir auf die Zunge.

Ruhig. Tief durchatmen. Du hast bereits das Adoptionsrecht. Du wirst ihn abholen. Du wirst ihn abholen. Du hast in den letzten Wochen wie ein Wahnsinniger dafür gekämpft.

Oceans Apart ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt