26.Kapitel

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Zusammengekauert sitzt Grace im dunklen Schatten unserer Felshöhle und hat ihr Gesicht in den Händen vergraben. Seit wir von dem Teich zurück gekehrt sind, hat sie kein Wort mehr gesprochen. Nach Alice' erlösendem Kanonenknall, ist Grace wortlos aufgestanden und wieder zurück zu unserem Unterschlupf. Katie und mir blieb keine Zeit mehr nach etwas zu suchen, dass mir für meine Verletzung oder gegen unseren Hunger helfen könnte. Ich betrachte sie von der gegenüberliegenden Seite der Höhle, unfähig ihr irgendwie zu helfen. Völlig regungslos und mit den Knien zu sich gezogen, sitzt sie von der Dunkelheit verschlungen in der hintersten Ecke unseres Verstecks, sodass Katie, die neben mir hockt und ich beinahe nur ihre Silhouette erkennen können.

Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Soll ich sie umarmen? Soll ich ihr sagen, dass es mir leid tut? Oder einfach stumm bleiben? Könnte ich mit Menschen besser umgehen, wüsste ich jetzt was ich zu tun habe. Aber mir fehlt es an dem nötigen Feingefühl und der Empathie. Zudem kenne ich Grace kaum - gerade einmal eine Woche, mehr nicht. Aus ihrer Erschütterung kann ich nur deuten, dass sie Alice schon länger gekannt haben muss. Sonst hätte sich Grace nicht einfach so mit ihr verbündet, zwischen ihnen befand sich ein gewisser Band, der einen meinen lassen könnte, dass die beiden Geschwister sind. Sie sahen sich sogar recht ähnlich. Beide gebräunte Haut, durch ihre Arbeit auf den Ackerflächen. Goldblondes wallendes Haar, das leicht orange in der Sonne glänzt. Es wäre keine Überraschung gewesen, wären die beiden doch Geschwister.
Es war nicht zu übersehen, dass Alice Grace viel bedeutete. Warum sonst hätte sie sich solche Sorgen um das kleine Mädchen gemacht und nun so auf ihren Tod reagiert. Vielleicht sollte ich sie auf Alice ansprechen, vielleicht hilft es ihr darüber zu sprechen...

Da durchbricht Grace' gedämpfte Stimme auf einmal die ohrenbetäubende Stille. Sofort überkommt mich Erleichterung. Es scheint fast so, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte.
„Sie hat in dem Haus gegenüber von mir gewohnt. Ihr Bruder und ich, wir waren schon seit der Kindheit miteinander befreundet und sind praktisch zusammen aufgewachsen. Alice war wie meine kleine Schwester, die uns überall hin gefolgt ist“, sie stockt kurz in ihrer Erzählung und lässt einen erstickten Laut von sich. „Wir sind den ganzen Sommer über zusammen in den Getreidefeldern, auf denen wir unseren Eltern eigentlich nach der Schule helfen sollten, herum gelaufen und haben Verstecken gespielt.“

Sie kannte Alice also wirklich länger. Wenn sie wie ihre Schwester war, kann ich mir ihren Schmerz gar nicht vorstellen. Nur der Gedanke Katie eines Tages verlieren zu können, lässt mich erschaudern. Instinktiv ziehe ich meine Schwester in meine Arme, die sich sofort an meine Schulter drückt.

,,Wie hieß ihr Bruder?“, frage ich, um ihr zumindest das Gefühl zu geben, dass ich sie verstehe.

„Eskil“, Grace schweigt einen Moment. „Ich will mir nicht vorstellen, wie es ihm und seiner Familie gerade geht. Er hat mir Alice anvertraut. Er meinte, ich solle sie nicht im Stich lassen. Und was habe ich getan? Ich habe genau das getan! Ich habe sie im Stich gelassen!“, ihre Stimme wird von Satz zu Satz höher und verzweifelter. Ich meine zu hören, wie sich ein merkliches Zittern in ihre Stimme geschlichen hat.

Zum ersten Mal nach unendlich erscheinenden Minuten, blickt sie hoch. Im schwachem Licht der Mittagssonne, das durch die Sträucher am Eingang der Höhle scheint, erkenne ich Tränen, die sich an ihren Wangen abzeichnen. Sie blickt erst mich, dann Katie eindringlich an.

,,Ich hätte es verhindern können, Amanda. Ich hätte das verhindern können. Ich bin schuld an ihrem Tod!“ Abermals vergräbt sie kopfschüttelnd ihr tränenüberströmtes Gesicht in den Händen. Ein ergreifendes Schluchzen entflieht ihr.

Wieder sehe ich Alice reglosen Körper vor mir. Das kleine Mädchen, ich kannte sie kaum, musste für etwas sterben, das vor 25 Jahren stattfand. Dieses kleine Mädchen, musste für etwas büßen, für das sie nichts kann. Innerlich überkommt mich eine Welle von Hass, als ich daran denke, wie viele Kinder das Kapitol schon auf dem Gewissen hat. Wie viele Menschen in den zwölf - nein dreizehn Distrikten schon sterben mussten, durch die Hand eines Mannes, der als alleiniger Regent über ganz Panem herrscht. Ob Snow, Hill oder der Präsident, der die Hungerspiele einführte. Und für was? Damit ein paar reiche, verwöhnte Menschen im Kapitol unterhalten werden. Man stelle sich nur mal die Zahl der Kinder vor, die geopfert wurden. Über Hundert Jahre hinweg mussten über 2000 Tribute sterben. Genauer gesagt 2300 Kinder, zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Und mit diesem Jahr sogar neun Jahre alte Kinder.
Ich spüre wie mein Gesicht und meine Hände vor Wut ganz heiß werden. Zitternd verkrampfe ich meine Hände zu Fäusten in Hoffnung, mein Gemüt zu besänftigen und keine unbedachten Dinge zu tun.

Tribute von Panem - Die Spiele gehen weiter (FF) (PAUSIERT) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt