Ich lehnte mich zurück und versuchte, Harrisons Blick, dessen ich mir wie vorhin brennend bewusst war, zu ignorieren. Das Dienstmädchen wuselte um mich herum und drückte mir ein neues Glas in die Hand. Ich musste langsam wirklich aufpassen, dass mir der Alkohol nicht zu Kopf stieg.
Nach einem weiteren Moment des Schweigens hörte ich etwas aus Harrisons Richtung rascheln. Schnelle, leichte Schritte nährten sich daraufhin der Tür und nach einem weiteren Knall waren auch die Bediensteten aus dem Raum verschwunden. Jetzt waren wir allein.
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Seine Stimme hallte schon beinah gespenstisch von den Wänden wider. Vielleicht war es aber auch nur Einbildung, lediglich ein Nebeneffekt der Nervosität, die gerade unvermittelt in mir aufstieg.
„Kann ich Sie daran hindern?“
Er schnaubte belustigt. „Wenn Sie nicht die nächsten zehn Minuten mit unangenehmem Schweigen füllen wollen, dann nein.“
Ich seufzte resigniert und hielt mich gerade noch davon ab, wieder an meinem Sekt zu nippen. Zur Sicherheit stellte ich das Glas einfach auf den kleinen Tisch vor mir. „Na dann, schießen Sie mal los.“
„Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?“
Die Frage überraschte mich. Ich hatte mit allem gerechnet, aber sicher nicht mit einer solch ernsten Thematik. Ich zögerte kurz, dann sagte ich: „Um ehrlich zu sein, habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht.“ Das war eine Lüge, aber über meine geheimen Zukunftspläne mit Tom und mir und meiner geplanten Karriere als Wirtschaftsberaterin des Königs brauchte er nun wirklich nicht Bescheid zu wissen.
Harrison nickte nur und betrachtete mich dann wieder. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und sah ihn herausfordernd an. „Und Sie? Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?“
„Ich sehe mich als kleiner, unscheinbarer Bauer ein Feld bestellen, in Latzhose durch kniehohen Matsch waten und im kräftigsten Regen die Schweine und Kühe zurück in den Stall scheuchen.“
Skeptisch sah ich zu ihm auf. „Das kann jetzt nicht ihr Ernst sein?“
Er grinste. „Da haben Sie recht.“ Er lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf seinen Knien ab, während er mich weiterhin eingehend musterte. „Allerdings haben Sie mir auch nicht die Wahrheit gesagt. Wieso sollte ich es also tun?“
Ertappt wandte ich den Blick ab. „Woher wollen Sie das wissen?“
„Oh, ich bitte Sie!“ Seine Stimme schlug einen spöttischen Tonfall an. „Sie scheinen mir nicht wie eine von denen, die ihre Zukunft einfach dem Zufall überlassen. Sie haben mit Sicherheit bereits einen Plan, am besten noch in mehrere Stufen unterteilt, damit auch ja nichts schiefgehen kann.“
„Sie nennen mich also ‚verschroben‘“, stellte ich ernüchtert fest, den Blick noch immer auf die goldenen Verzierungen an der Wand gerichtet.
„Nun… ja.“, kam es geradewegs aus seinem Mund.
Ich schnaubte. „Charmant.“
„So bin ich.“
Und trotz des komischen Gefühls im Bauch, konnte ich nicht umhin diese Geradlinigkeit und Ehrlichkeit an ihm zu schätzen.
Diesen Typ Mensch traf man am Hof nur selten und doch wünschte sich jeder insgeheim, man hätte so jemanden an seiner Seite. In mir kam die Erinnerung an ein Gespräch mit Layla hoch, in dem sie mir erzählte, dass sie sich wünschte, ihr zukünftiger Mann – nun gut, eigentlich nannte sie Toms Namen – würde diese Eigenschaften in sich tragen. Fast hätte ich gelächelt.
Es entstand eine weitere Pause, das leicht unangenehme Gefühl in meinem Magen wurde stärker. Wo blieben Tom und Layla?
Über das Rauschen in meinen Ohren musste ich ihn überhört haben, denn ich schreckte erst zusammen, als ich seine Hände auf meinen Schultern spürte.
„Sie müssen sich ganz dringend entspannen“, raunte Harrison, den Druck seiner Finger verstärkend.
Langsam massierte er mir die Schultern, wobei seine übrigen Finger sacht über meine nackte Haut strichen. Ich war zu geschockt, um irgendwie zu reagieren.
„Wissen Sie, Ashley-“ Seine Stimme war wieder tief auf eine Art, wie sie andere Mädchen vielleicht als anziehend oder attraktiv beschrieben hätten. Doch für mich war es die Falsche, die so in mein Ohr wisperte.
„Ein Leben am königlichen Hof kann ganz schön einsam werden. Traurig nahezu. Man vergeht, wenn man sich nicht ab und zu eine kleine Auszeit von all den Regeln und getakteten Zeitplänen nimmt.“
Der Druck auf meine Schultern nahm zu. Es war offen gestanden nicht unangenehm. Kurz erwischte ich mich sogar dabei, wie ich während seiner kurzen Sprechpause die Augen schloss. Dann sprach er jedoch weiter und ich schreckte wieder hoch.
„Gerade Sie sollten sich das einmal zu Herzen nehmen.“ Er ließ seine Hände wandern, höher, zu meinem Hals. Er massierte weiter, sachte, und zu meinem Entsetzten flatterten meine Augen wieder.
„Wie meinen Sie das?“, hörte ich mich selbst murmeln, noch bevor ich recht darüber nachdenken konnte.
„Ich meine-“ Seine Hände wanderten wieder zu meinen Schultern und ich spürte, wie er sich vor lehnte, bis mir sein Atem über die Schläfe strich. „- dass sie ganz dringend jemandem zum Abschalten brauchen.“
Meine Sicherungen brannten durch. Ich entzog mich seinem Griff und erhob mich. Mein Gesicht glühte und als ich mich zu ihm umdrehte, musste mir mein Entsetzen ins Gesicht geschrieben stehen. „Sie irren sich“, sagte ich mit fester Stimme, aber ich konnte nicht verhindern, dass sie trotz allem ein wenig zitterte.
Harrison grinste schelmisch. „Sicher?“
Schneller als ich hätte reagieren können hatte er sich mit der Hand auf die Lehne gestützt und war mit einem gekonnten Sprung über das niedrige Sofa gesprungen, sodass er nun direkt vor mir stand. Überrascht stolperte ich ein Stück nach hinten, doch er hielt mich am Arm fest. Trotzdem hörte ich hinter mir ein leises Klirren, als mein Glas auf dem Tisch umfiel.
„Ashley“, raunte er wieder und fuhr mit seiner Hand über meinen Arm. Seine Finger waren sanft, weich, fühlten sich gut an auf meiner Haut. Zu gut! Ich wollte weggehen, doch Harrison musste es in meinen Augen gesehen haben und sein anderer Arm legte sich um meine Hüfte. „Sie urteilen schneller, als sie sollten.“
„Da muss ich Ihnen leider auch widersprechen.“ So langsam bekam ich echt Panik. Das war nicht richtig. Ich war vergeben und er war nicht der Mann, in dessen Armen ich liegen sollte. Vielleicht war auch ich das falsche Mädchen für seine Arme, denn so wie er mich hielt, wollte er lieben, wollte er geben, wollte er für sie da sein. Doch ich war nicht die, die für ihn bestimmt war.
Harrison roch nach Zitrone. Vielleicht hätte mir das sogar gefallen, wenn ich nicht die ganze Zeit Toms Geruch in der Nase gehabt hätte, sein Gesicht vor meinen Augen, die Stimme in meinem Kopf, die schrie, dass das nicht richtig war.
„Ach tatsächlich?“ Er grinste und zog mich noch ein Stückchen näher. „Das sah eben aber noch ganz anders aus.“ Und bevor ich ihn von mir drücken konnte, überrumpelte er mich.
Es war nur eine kleine Berührung, ein kurzer, von ihm ausgehender Kuss. Seine Lippen, weich und warm, wie man es erwarten würde, schmiegten sich an meine und raubten mir den Atem. Es waren nicht einmal zwei Sekunden gewesen. Dann stieß ich ihn mit einer solchen Wucht von mir, dass er stolperte und rückwärts auf das Sofa fiel. „Was zum-?“
„Wie können Sie es wagen?“, zischte ich wütend. Ohne auf eine Antwort zu warten machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte geradewegs auf die Tür zu.
Ich wusste nicht so recht, warum, aber mir brannten Tränen in den Augen. In meinem Kopf war nur Platz für einen Gedanken: Tom.
Wütend und offen gestanden ziemlich planlos und verzweifelt riss ich die Tür zum Flur auf – nur um mit eigenen Augen ansehen zu müssen, wie Layla gerade ihre Lippen von Toms löste und ihm zärtlich mit der Hand durchs Gesicht fuhr. Ich war so geschockt, dass ich mich glatt verschluckte.
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Und die Nachtigall singt | Tom Holland ff
FanfictionAshley Maria Barthon ist eine der wenigen - wenn nicht sogar die Einzige - die sich ihr Leben als englische Adelstochter sicher anders vorgestellt hat als der Durchschnitt. Tee mit anderen Hofdamen im fein geschmückten Salon, königliche Bälle mit M...