8.

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„Was willst du denn schon wieder?" Johns Stimme klang nicht gerade so, als würde er sich freuen, mich zu sehen.

„Mit dir reden. Diesmal aber richtig." Meine Stimme hielt stand, was schon mal eine Erleichterung für mich war.

„Aha, und worüber? Hab nicht so viel Zeit."

Der andere Typ stand immer noch im Hintergrund und musterte mich aus seinen blauen Augen. Er strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus, wie er da so breitbeinig und mit gekreuzten Armen wenige Meter neben uns stand.

„Ähm, über mich? Über dich?" Etwas aus dem Konzept gebracht suchte ich nach den passenden Worten. „Noch mal ganz von vorne halt. Ich bin nur bis morgen Mittag hier in Hamburg. Mir wäre es wirklich wichtig."

John durchbohrte mich beinahe mit seinen Augen. Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erahnen, was er mir gleich antworten würde. Es blieb ausdrucklos, selbst als er dem anderen Typ leicht zunickte.

„Na gut. Komm mit."

Ohne auf mich zu warten, ging er voran ins 187 Ink. Der Laden war größer, als ich es von außen gedacht hätte. Es waren einige Merchartikel ausgestellt, die man hier wohl auch kaufen konnte. An einer der Wände thronte ein riesiges, gespraytes Krokodil.

John achtete nicht darauf, ob ich ihm folgte, sondern ging eilig um den Empfangstresen herum und durch eine Tür, die wohl nur für Mitarbeiter gedacht war. Überfordert, ob ich ihm folgen oder hier auf ihn warten sollte, blieb ich mitten im Raum stehen.

„Na los, geh schon.", raunte mir der Riese, der mit meinem Bruder aus dem Auto gestiegen war, mit tiefer Stimme zu und nickte wegweisend zur Tür hinter dem Tresen.

Unsicher trugen mich meine Füße in den angrenzenden Raum.

John saß breitbeinig auf der Couch und nahm somit gut die Hälfte der Sitzfläche ein. Er tippte gebannt auf seinem Handy herum, bevor er mir seine Aufmerksamkeit widmete.

„Setz dich."

Ich tat, was er sagte und versuchte mich mit möglichst viel Abstand neben ihn zu platzieren, was keine einfache Aufgabe war.

Ein letztes Mal atmete ich tief durch, bevor ich einfach loslegte.

„Tut mir erst mal leid, dass ich dir in deiner freien Zeit so aufgelauert habe. Ich wusste aber nicht, wie ich dich sonst finden soll. Ich bin nämlich nur dieses Wochenende in Hamburg. Wenn's okay ist, würde ich gerne einfach erzählen, ohne dass du mich groß unterbrichst?"

Johns Miene blieb weiterhin unbeeindruckt.

„Ich hab aber nicht ewig Zeit."

Wow, seine Laune war ja grandios. In diesem Moment war ich froh, dass ich mich im Vorfeld wenigstens etwas darauf vorbereitet hatte, was ich ihm sagen wollte.

„Okay... weißt du, das Thema ‚Familie' ist allgemein ein Thema, auf das ich sehr, ähm... sensibel reagiere. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll und war... bin immer noch überfordert, dich in das Ganze einzuordnen. Zusammengefasst habe ich familiär gesehen nur noch meine Mutter und zu der habe ich seit 6 Jahren keinen Kontakt mehr. Da ist ziemlich viel Scheiß passiert, nachdem mein Papa gestorben ist. Viel mit Alkohol, Drogen, häuslicher Gewalt und so. Ich hab damals jegliches Vertrauen in sie verloren, obwohl es in unserer Familie nur noch uns beide gab. Groß geworden bin ich im Block und tagsüber auf der Straße. Ich wohne aktuell zwar in Frankfurt, habe aber bis ich 18 Jahre alt war in Offenbach gelebt. Hab halt viel Mist gesehen und miterlebt. Deine Persönlichkeit und dein Lebensstil triggern mich da einfach unglaublich. Alles an deiner Musik. Meine Mutter ist an den Drogen kaputt gegangen und ich dadurch irgendwie auch. Ich schaffe es nicht mehr, das alles noch mal mitzumachen. Ich musste mit 16 in Therapie, weil ich nervlich ein absolutes Wrack war. Erst als ich von zu Hause ausgezogen bin, wurde es besser. Ich leide unter Panikattacken aufgrund einer Angststörung, habe massive Verlustängste, und eine diagnostizierte Bindungsstörung auf familiärer Ebene. Das kam alles erst, nachdem meine Mutter so, ähm... durchgedreht ist. Bis vor ein paar Monaten gab es keinerlei Anzeichen mehr von diesen psychischen Diagnosen. Ich hab mit meiner Mutter abgeschlossen und gut ist. Nach eurem Konzert in Frankfurt ging es dann wieder von vorne los. Mir geht es momentan miserabel, um es nett auszudrücken. Ich gehe wieder zu meinem Therapeuten, weil ich es nicht mehr schaffe, das allein mit mir auszumachen. Auslöser für das Ganze bist du, auch wenn du primär nicht schuld daran bist. Es ist einfach die Gesamtsituation."

Ich wagte einen ersten Blick auf meinen Bruder, denn während meines Monologs hatte ich nur starr auf meine ineinander verkrampften Hände gestarrt.

Johns Gesichtszüge waren weicher geworden, trotzdem konnte ich noch einen gewissen Ernst in seiner Miene erkennen. Nach einigen Sekunden, in denen er nichts erwiderte, fuhr ich fort.

„Dr. Herdt, also mein Therapeut, ist auch der Meinung, dass ich mich mit dir aussprechen sollte, um mit dir abzuschließen und die Sache neutral hinter mir zu lassen."

John schwieg weiterhin. Sein Blick lag, genau wie bei mir, auf seinen Händen. Keiner von uns beiden wusste, was er sagen sollte. Die nächsten Sekunden Stille kamen mir wie Stunden vor.

„Darf ich jetzt was sagen?", brach John mit ruhiger Stimme unser Schweigen.

Ich nickte, traute mich nicht, ihn direkt anzusehen.

„Ich versteh's, klar. Aber es ist nicht fair, dass du mich direkt als Klischee-Gangster abstempelst, ohne mich persönlich zu kennen. Du kennst nur den Bonez MC aus den Medien. Die Person, die ich bewusst in die Außenwelt projiziere. Aber du hast keine Ahnung, wer ich wirklich bin."

Ich wusste, dass er recht hatte. Es war ganz und gar nicht fair. Doch auf der anderen Seite waren meine Ängste einfach unwahrscheinlich groß. Genau das versuchte ich ihm nun zu verstehen zu geben.

„Ich kann meine Ängste halt nicht kontrollieren. Ich nehme keine Medikamente oder so. Das passiert alles unterbewusst. Ich finde es garantiert nicht geil, fast jede Nacht wegen Alpträumen wach zu werden."

„Was ich aber auch nicht verstehe... wenn du keine Familie mehr hast, ist da der Wunsch nach einer Familie dann nicht besonders groß?"

Damit traf er genau ins Schwarze.

„Du glaubst gar nicht, wie groß. Aber ich habe einfach Angst davor, wieder enttäuscht zu werden. Wieder verlassen zu werden und plötzlich wieder alleine dazustehen."

„Warum lehnst du es dann genauso konsequent ab, meine Schwester kennenzulernen? Marie hat mit alldem nichts zu tun. Sie hat Familie und lebt ein wirklich ruhiges Leben."

Eine durchaus berechtigte Frage, die ich nur mit Mühe beantworten konnte. Es fiel mir schwer, mit einem fast Fremden über meine Ängste zu sprechen und doch musste ich es tun, um wenigstens ein bisschen Verständnis von ihm zu bekommen. Das hoffte ich zumindest.

„Das kann ich nicht. Mir fällt es schon schwer, Vertrauen zu gleichaltrigen Mädels oder anderen Frauen zu fassen. Ich sehe da immer meine Mutter vor mir. Sie war immer die einzige weibliche Bezugsperson, die ich hatte. Sie hat einfach so vieles in mir kaputt gemacht. Ich würde es gerade genauso wenig schaffen, eine Tante oder so zu treffen. Keine Ahnung, das kann ich nicht so gut erklären."

Ich wusste wirklich nicht, wie ich diese Gedankengänge einem Außenstehen erklären sollte. Dass mein Urvertrauen so gebrochen war, war allein meiner Mutter verschuldet.

„Das ist ganz schön viel, was du da erzählt hast." Johns Stimme war fast sanft und er schien über all das nachzudenken, was er gerade von mir gehört hatte. „Was 'ne Scheiße.".

„Mhm.", bestätigte ich ihm.

Ohne Vorwarnung drehte sich mein Bruder zu mir um und sah mich aus fast schon bittenden Augen an. „Gib mir wenigstens eine Chance. Lass mich beweisen, dass ich auch anders sein kann, als du denkst."

Long Long Way (Bonez MC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt