13.

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Als ich das nächste Mal wach wurde, war alles um mich herum schwarz. Ich konnte nur schemenhafte Umrisse erkennen und es brauchte einige Sekunden, bis ich begriff, wo ich eigentlich war. Im nächsten Moment realisierte ich, dass jemand über mich gebeugt stand und mich augenscheinlich durch ein Rütteln an den Schultern geweckt hatte.

Die Stimme meines Bruders drang wie durch Watte zu mir durch. Mein Atem ging schnell und ich fühlte, wie meine völlig durchschwitzte Kleidung an meinem Körper klebte. Mein Gesicht war tränennass und mein Herz raste, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Erstmals versuchte ich mich auf Johns Worte zu konzentrieren. Er redete mir gut zu, wusste eindeutig nicht so ganz, wie er mit der Situation umgehen sollte. Als John merkte, dass ich ihn direkt ansah und wieder aufnahmefähig war, setzte er sich neben der Couch, auf der ich immer noch lag, auf den Boden. Wir waren somit auf Augenhöhe.

„Geht's wieder?", fragte mein Bruder sachte.

Ich konnte nur nicken, traute mich noch nicht zu sprechen.

„Skittlez hat mich geweckt. Er hat gar nicht mehr aufgehört zu bellen, bis ich endlich wach war. Ich hab dich dann auch gehört. Du hast geschrien im Schlaf."

Langsam setzte ich mich auf und fuhr mir erschöpft mit der Hand durch mein Gesicht.

„Tut mir leid.", flüsterte ich. „Ich wollte dich nicht wecken."

Ich hatte wirklich ein schlechtes Gewissen. John hatte so viel zu tun, da brauchte er den Schlaf bestimmt dringend.

„Red keinen Scheiß. Das ist doch jetzt nicht wichtig."

Meine Augen begannen zu brennen und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Erfolglos versuchte ich, die Tränen wegzublinzeln.

„Kann ich irgendwas für dich tun? Dir irgendwie helfen?"

John wirkte wirklich verzweifelt und hilflos. Aus müden Augen sah er mich an, sichtlich überfordert. Ich schüttelte nur leicht den Kopf.

„Hast du das öfter?"

Ich nickte, probierte dann doch, meinem Bruder zu antworten.

„Fast jede Nacht.", krächzte ich mit belegter Stimme.

„Du träumst von früher, oder?" Ich nickte erneut, wollte jedoch nicht weiter darüber reden.

„Sorry, dass ich hier eingeschlafen bin."

Wäre das nicht passiert, hätte mich John so nicht erleben müsse.

„Hey, das ist doch kein Ding. Komm, ich geb dir was von mir zum Anziehen."

Mein Bruder erhob sich und schaltete erst mal ein kleines Licht an.

„Darf ich kurz duschen gehen?" Meine Stimme klang immer noch unsicher.

„Natürlich darfst du das. Warte kurz, ich bring dir Klamotten und ein frisches Handtuch."


Als ich unter der Dusche stand, merkte ich, wie verspannt meine Muskeln waren. Das warme Wasser lief über meinen Körper und mischte sich mit meinen Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte. Ich duschte nur kurz, denn ich wollte John nicht zu lange warten lassen. Meine Haare hatte ich vorher zu einem unordentlichen Dutt gebunden, denn ich hatte wenig Lust, nachts meine Haare föhnen zu müssen. Keine Ahnung, ob mein Bruder überhaupt einen Föhn besaß. Mit nassen Harren wollte ich zu dieser Jahreszeit allerdings auch nicht rumlaufen.

Die Boxershorts, die mir John gegeben hatte, rutsche mir direkt wieder von den Hüften. Wie nervig, das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Das T-Shirt war, im Vergleich zu meinen Klamotten, unnormal groß. Aber gut, John war auch einfach ein Riese. Mein Bruder würde mir schon nichts weggucken, daher verzichtet ich auf die Boxershorts und zog stattdessen wieder meinen Slip an. Das T-Shirt war außerdem so lang, dass es mir fast bis zu den Knien reichte. Ich warf einen schnellen Blick in den Spiegel, ehe ich das Bad verließ. Ich sah, trotz Dusche, aus wie ein Geist. Es war mir unangenehm, dass John mich so sah. Normalerweise versuchte ich, meine schwache Seite so lange wie möglich zu verbergen.

Trotzdem traute ich mich zurück ins Wohnzimmer zu gehen. John hatte die Balkontür geöffnet und die frische, eisige Nachtluft durchströmte den Raum. Er saß auf der Couch, sein Körper war nach vorne gebeugt und seine Ellenbogen waren auf die Knie gestützt. Als mein Bruder meine Schritte wahrnahm, setzte er sich etwas auf und schaute mich an. Er bemerkte, dass ich zu frösteln begonnen hatte, weshalb er schnell aufstand und die Balkontür schloss.

„Und jetzt?", stellte er die Frage, die mir ebenfalls durch den Kopf ging.

Wir setzten uns beide wieder auf die Couch. Die Decke, die John mir offenbar übergelegt hatte, zog ich mir über meine nackten Beine.

„Gute Frage. Schlafen kann ich nach den Alpträumen meist nicht mehr."

Johns Arme waren von einer Gänsehaut überzogen, daher gab ich ihm unaufgefordert etwas von der Decke ab.

„Dann schläfst du eigentlich keine Nacht durch, oder wie?"

„Momentan nicht. Ich dachte eigentlich, ich hätte das alles schon hinter mir. Die Alpträume waren ganz selten geworden, aber in den letzten Monaten kamen sie wieder fast jede Nacht."

Schweigend saßen wir nebeneinander und hingen unseren Gedanken nach.

„Drüber reden magst du nicht, oder?"

Ich schüttelte nur leicht den Kopf. Das konnte ich nicht. Dafür fehlte mir noch lange das nötige Vertrauen zu John.

„Darf ich dich wenigstens in den Arm nehmen?"

Es war irgendwie seltsam, den großen Blonden so verunsichert zu erleben. Ich wollte ihn nicht komplett von mir wegstoßen, daher gab ich ein leises „Ja." von mir.

Vorsichtig zog er mich in seine Arme und ich fühlte, wie mich eine innere Wärme durchströmte. Mein Kopf ruhte an seiner Brust und ich konnte seinen Herzschlag deutlich hören und spüren. Es war ein magischer Moment, trotz der vorangegangenen Situation. Der Kloß in meinem Hals wurde größer und ich krallte meine Hände in sein T-Shirt. Das Schluchzen, das meiner Kehle entwich, konnte ich nicht unterdrücken, weshalb Johns Arme sich noch etwas fester um mich schlossen. Ich spürte, dass er seinen Kopf auf meinem abgelegt hatte. Dieser ganze Moment beruhigte mich unwahrscheinlich, trotzdem musste ich immer wieder aufschluchzen. Nicht wegen der Träume. Sondern wegen der Tatsache, dass mein Bruder mich in seinen Armen hielt. Mich tröstete und für mich da war. Das, was ich mir insgeheim immer erträumt hatte. Vielleicht waren wir wirklich auf einem guten Weg. Andererseits konnte auch noch so vieles schiefgehen. Daran wolle ich im Augenblick jedoch nicht denken. Ich genoss den Moment. Genoss die Geborgenheit, die mir John jetzt gerade gab.

Langsam beruhigte ich mich wieder. John wurde nicht müde, mir über den Rücken zu streichen. Es war seltsam, denn normalerweise war ich nach meinen Alpträumen hellwach, hatte regelrecht Angst davor, wieder einzuschlafen. Heute war es irgendwie anders. Johns Körperwärme und sein Geruch lullten mich ein. Seine starken Arme und sein beruhigender Herzschlag gaben mir vermutlich den Rest. Ich konnte spüren, wie ich immer mehr abdriftete und der Schlaf mich einholte, ohne dass ich es verhindern konnte. So beschützt hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt und das schien auch mein Körper zu merken. Letztendlich schlief ich in den Armen meines Bruders ein, als hätte es den Alptraum nie gegeben.

Long Long Way (Bonez MC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt