Der nächste Tag begann viel zu früh und viel zu hell. Auf dem gestrigen Rückweg zu unserem Hostel waren wir noch in einer Kneipe gelandet und dort versackt. Aber so richtig. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es gerade mal kurz nach 10 Uhr war.
„Oh Gott, ich sterbe.", murmelte ich leise in mein Kissen.
„Immerhin geht es dir genauso, wie mir.", hörte ich Sima über mir mit rauer Stimme jammern.
„Warum bist du überhaupt schon wach?", fragte ich, da es mir viel zu früh vorkam.
„Du bist doch auch schon wach."
„Ja, stimmt." Mein Gehirn war offenbar noch im Vollsuff, denn jegliches Denken fiel mir äußerst schwer.
„Warum haben wir die blöden Vorhänge nicht zugezogen?", schimpfte Sima weiter und ich begriff schlagartig, warum es so hell im Zimmer war.
„Steh mal auf und zieh die scheiß Teile zu, Jara. Du liegst unten im Bett und ich müsste erst die Leiter runter."
„Ne, ganz sicher nicht. Mein Kopf explodierte auch schon ohne, dass ich mich bewege."
„Komm schon, handel mal für das Kollektiv."
„Mach du doch."
„Meine Fresse, diskutiert mal vor der Tür weiter.", mischte sich mit einem Mal eine dritte Stimme ein. Yassin klang genauso fertig, wie ich mich fühlte.
„Yassin, mach mal die Vorhänge zu.", redete Sima einfach weiter, weshalb ich aus irgendeinem Grund lachen musste und mich nicht mehr einbekam.
„JARA, ich töte sich gleich.", grummelte Yassin böse, was mich dazu veranlasset, weiterhin dumm vor mich hinzukichern.
„Alter, ich glaube ich bin noch soooo voll."
„Warum schafft es Dilan eigentlich, einfach weiterzuschlafen?"
Dilan lag quer über Yassins Brust, da sich die beiden gestern zu zweit in das kleine Bett gequetscht hatten.
„So einen tiefen Schlaf hätte ich auch gerne." Sima war aus ihrem Bett geklettert und schaute bewundernd auf Dilan herab.
Ich war jetzt auch zu wach, um noch mal einzuschlafen, weshalb ich aufstand und meine Wasserflasche suchte.
„Will noch jemand 'ne Aspirin?"
Da sich alle, bis auf die schlafende Dilan, meldeten, verteilte ich großzügig die Tabletten.
„Ich geh erst mal duschen. So ekelhaft hab ich mich lange nicht mehr gefühlt."
Die Kneipe war wohl eine Raucherkneipe gewesen. So ganz konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber ich stank wie ein überfüllter Aschenbecher.
„Warte mal, ich komm mit.", schloss sich Sima mir an.
Gemeinsam mit Sima suchte ich das Gemeinschaftsbad auf. Immerhin waren die Duschen in einzelne, abschließbare Kabinen geteilt.
„Bäh, meine Haare stinken so hart nach Rauch.", fluchte Sima in der Kabine neben mir.
Wir hatten das Bad im Augenblick für uns, daher redeten wir einfach laut weiter, während wir unter der Dusche standen.
„Haben wir irgendwas Peinliches gemacht? Ich erinnere mich echt nicht mehr so ganz."
„Kein Plan. Ich hoffe mal nicht. Aber Jara, selbst wenn. Kennen tut uns hier doch eh keiner. Daher ist's egal." Sima wusste also auch nicht mehr alles von gestern Abend. Das beruhigte mich etwas.
Als wir zurück in unser Zimmer kamen, saß Dilan aufrecht im Bett und jammerte leidvoll, als sie uns sah. „Ich glaube, ich muss sterben. So elend gings mir lange nicht mehr."
Sima warf ihr eine Aspirin zu und deutete auf die Tür. „Nimm mal 'ne Dusche. Dann geht's dir gleich bisschen besser."
Yassin war wohl auf die gleiche Idee gekommen, denn von ihm fehlte jede Spur.
Und tatsächlich, als wir uns alle fertig gemacht hatten, war die Stimmung schon wieder besser. Auf Essen gehen hatte keiner Lust, obwohl es durchaus schon wieder Zeit für ein Mittagessen gewesen wäre.
„Wisst ihr was? Ich setze mich jetzt in die Nähe vom Tattoostudio irgendwo hin und warte dort ein bisschen. Geht ihr solange ruhig schon mal woanders hin. Ich melde mich, wenn ich dazu komme oder irgendwas anderes passiert."
Sima, Dilan und Yassin sahen mich allesamt skeptisch an.
„Bist du dir sicher?", sprach Dilan die Frage aus, die sich wohl alle gestellt hatten.
„Ja, wirklich. Ist schon in Ordnung."
Es war etwa 12:30 Uhr, als ich mich in der Nähe des 187 Ink auf die gleiche Metallstange niederließ, an der ich gestern schon mit Sima und Dilan gestanden hatte. Gemütlich war es nicht unbedingt, aber darum ging es hier ja auch nicht.
Erst einmal passierte gar nichts. Die Leute gingen ein und aus, aber es schienen alles Kunden zu sein. Obwohl ich so etwas niemals machen wollte, kam ich mir vor, wie die größte Stalkerin. Zwischendurch hatte ich immer wieder mein Handy gecheckt. Auf der Hinfahrt kam Sima auf die großartige Idee, mit unserem gemeinsamen Fake-Instagramaccount John zu folgen, damit wir seine Storys verfolgen konnten. Den Fake-Account hatten wir eigentlich ausschließlich, um in der WG-Küche zu sitzen und irgendwelche Leute zu stalken, bei denen wir nicht unseren richtigen Accounts benutzen wollten. John postete gefühlt alle paar Minuten etwas in seine Storys. Dass er so viel Zeit in so einen Mist investierte, konnte ich nicht ganz nachvollziehen.
Nach fast drei Stunden wurde mir echt kalt. Ich war müde, bekam langsam Hunger und diese beiden Zustände plus die Kälte führten nicht gerade zu einer guten Gemütslage. Mein Handyakku näherte sich außerdem langsam den letzten 20%, da ich vor lauter Langeweile zu viel gedaddelt hatte. Auch Johns Instagramstorys hatte ich mir weiterhin angeschaut. In seinem letzten Video saß er mit irgendeinem anderen Typ im Auto und hörte laut Musik. Wo genau sie hinfuhren, war nicht erkennbar gewesen.
Gegen 16 Uhr gab ich es auf. Ich war durchgefroren und hatte keine Geduld mehr. Gerade als ich aufstehen und einen meiner Freunde anrufen wollte, fuhr ein dickes schwarzes Auto auf den Parkplatz direkt vor dem 187 Ink. Der Bass dröhnte bis zu mir herüber und ich hatte eine Vorahnung, wer gleich aus diesem Auto steigen würde.
Als die Musik ausging, stieg auf der Fahrerseite ein unglaublich großer Mann aus, der nahezu an allen Köperstellen, die man sehen konnte, Tattoos trug. Außer im Gesicht. Er hatte braune Haare, an den Seiten kurz rasiert und oben etwas länger und akkurat zur Seite gegelt. Wie scheinbar alle aus dem Umfeld trug er die obligatorische Jogginghose, teuer aussehende Nikeschuhe und einen Hells Angels Pulli, was mich direkt noch mehr abschreckte.
Kurz nach ihm stieg auch auf der Beifahrerseite jemand aus dem Auto. Meine Vorahnung bestätigte sich und ich musste mich kurz an der Metallstange neben mir festhalten, um meine Aufregung in den Griff zu bekommen. Ich hatte mich vorbereitet und dieses Mal könnte alles gut verlaufen. Zumindest von meiner Seite aus.
John redete mit ein paar Jugendlichen, die ihn erkannt hatten und machte anschließend noch Fotos mit ihnen. Der andere Mann hielt sich im Hintergrund, hatte John aber genau im Blick. Auch er wurde von den Jugendlichen angesprochen. Wahrscheinlich gehörte er auch dazu, was mich jedoch wunderte, war, dass die Jugendlichen keine Fotos mit ihm machten.
Ich atmete noch einmal tief durch, nahm all meinen Mut zusammen und überquerte mit schnellen Schritten die Straße.
„Warte!", wollte ich ihm zurufen, doch meinem Mund entwich nur ein leises Krächzen. Zu lange hatte ich schweigend in der Kälte gestanden. John hatte mich nicht gehört und ging weiter auf den Eingang des Tattoostudios zu.
Ich räusperte mich und rief noch einmal „Warte!", diesmal mit lauterer Stimme, und hängte noch ein „Bitte." dran, als sich mein Bruder umdrehte und mich mit leicht zusammengekniffenen Augen ansah.
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Long Long Way (Bonez MC)
FanficJohns Augen huschten hin und her, als er mein Gesicht musterte. „Und du willst jetzt einfach so wieder abhauen? Ich meine, du hast gerade erfahren, dass du noch Geschwister hast. Ich würde schon gerne wissen, wie du so bist. Ist dir das wirklich all...