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Mama setzte sich aufs Sofa und Sabine kochte in der Küche Tee.
Sie brachte die beiden Tassen ins Wohnzimmer und gab eine von beiden Mama.
Zuerst schwiegen die beiden nur, doch irgendwann brach Sabine das schweigen und meinte ruhig: »Ihr seid ihnen vor's Auto gelaufen, nicht wahr?«
»Wer ist wen, wann vor's Auto gelaufen?«, fragte Mama so als wenn sie nicht wüsste worum es ginge.
»Du und Rocky vor 15 Jahren, vor's Auto deiner Eltern«, sagte Sabine mit brüchiger aber ernster Stimme.
Mama stotterte irgendwas vor sich hin und brachte im Endeffekt nur ein »Woher?« raus.
»Ich hab's die ganzen Jahre nur Vermutet, denn an dem Abend, dem Abend des Unfalls, an dem Abend an dem DU abgehauen bist, hattest du einen Streit mit deinen Eltern. Ich weiß noch ganz genau es ging wieder um deine Reiterlichezukunft. Du warst sauer und bist in den Stall gekommen, du hast Rocky gesattelt und wolltest den Kopf im Wald frei kriegen. Ich wollte dich davon abhalten, denn es dämmerte schon und Rocky war noch so jung, es war so gefährlich...«, Sabine hielt kurz inne, wischte sich eine Träne weg und fuhr vorsichtig fort. »Du hast dich nicht abhalten lassen und bist los geritten. Was dann passiert ist konnte ich immer nur ahnen. Aber als ich vorhin deine Reaktion auf das Bild gesehen habe, wusste ich das du dachtest das er Tod sei und da war mir klar, dass ich all die Jahre Recht gehabt hatte.«
»Ich wollte doch nicht...«, brach es aus Mama heraus, die wieder anfing zu weinen. »Ich konnte nichts tun, er ist durch gegangen, er ist einfach Kopflos los gelaufen!«, schrie sie schmerzend.
»Ich konnte nichts tun!«, wiederholte sie sich mit einem Schmerz in ihrer Stimme, der kaum zu beschreiben war.
»Es ist nicht deine Schuld, hörst du!«, sagte Sabine, während sie Mama umarmte. »ES IST NICHT DEINE SCHULD!«
»Ich war auf dem Weg zurück zum Hof und Rocky hat sich erschreckt und ist einfach los gelaufen. Ich hab alles versucht, aber er hielt nicht an. Er galoppierte übers Feld und direkt auf die Hauptstraße zu. Ich hab versucht die Richtung zu ändern, aber er lief einfach weiter. Er lief vor's Auto und sie konnten nicht mehr Bremsen«, Mama stockte, »Sie fuhren gegen uns und wir fielen zu Boden, sie verloren die Kontrolle und fuhren gegen einen Baum. Rocky und ich standen sofort auf, er hat überall geblutet und ist einfach in den Wald gelaufen. Ich bin zu dem Auto gelaufen und dort, dort waren sie«, Mama weinte voller Schmerz und schrie: »Sie waren dort, meine Mama war sofort Tod und mein Papa war noch am Leben! Ich habe versucht ihn am Leben zu halten, aber es ging nicht, er hat noch gesagt, dass er mich liebt und dann, dann ist er einfach gestorben. Sabine er ist in meinen Armen gestorben!«
Sabine nahm Mama in den Arm und versuchte ihren Schmerz zu lindern, was aber eher weniger funktionierte, denn diesen Schmerz konnte niemand außer sie selbst lindern.
»Das Auto fing an zu brennen und ich musste weg. Ich hab versucht Rocky zu finden, aber ich fand nur ganz viel Blut. Ich war mir sicher, dass er nach diesen Aufprall nur sterben konnte und schrie nur noch, ich schrie mir die Seele aus den Leib und bin dann übers Feld gelaufen und nach Hause gegangen. Ich habe nur geweint und geschrien. Zuhause habe ich dann den Kamin angemacht und meine vollgebluteten Klamotten reingeworfen, dann bin ich duschen gegangen. Ich hatte überall Blut, sowohl meins und Rockys, als auch das meiner Eltern. Ich hab unglaublich lange geduscht, ich stand einfach dort, ließ das heiße Wasser auf mich rieseln und überlegt was ich jetzt machen würde. Zuerst wusste ich nicht weiter, ich wusste nicht was ich machen sollte, dann habe ich aber entschlossen weg zugehen. Einfach ganz weit weg. Ich hab die Möbel abgedeckt, alle Betten gemacht, alles was mich an Rocky erinnert weg gepackt, alle Fenster und Türen geschlossen, überall Licht aus gemacht und wollte los. Dann klingelte es aber an der Tür und dort stand die Polizei, die mir sagte was ich schon wusste. Sie wollten wissen wen ich anrufen könnte, der mir Gesellschaft leistet. Ich hab so getan als wenn ich dich Anrufe und als die Polizisten weg waren, hab ich mein Auto genommen, bin zum Bahnhof gefahren, dann einfach in den nächsten Zug und bin bis zur letzten Station gefahren«.
Sabine konnte es nicht fassen, sie wischte sich ihre Tränen aus den Augen und streichelte über Mamas Hand.
»Du armes Ding, hast du es jemals irgendwem erzählt?«
Mama schüttelte den Kopf und Sabine antwortete: »Um Gottes Willen Tilly, das ist so grausam. Wie bist du nur all die Jahre mit diesem Gefühl zurecht gekommen?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin in München ausgestiegen, habe meinen Mann kennengelernt und ein komplett neues Leben geführt. Keiner wusste von dem was war, keiner wusste von Rocky, von meinen Reiterfolgen, oder meinen Eltern. Keiner dort hat mich jemals Tilly genannt, Tilly gab es nicht mehr, nur noch Mathilde«, das sagte Mama nicht mehr schreiend oder weinend, sie sagte es so kontrolliert und ruhig vor sich hin, als wenn sie übers Wetter oder über die Arbeit reden würde.
»Das tut mir so unglaublich leid für dich«, meinte Sabine völlig durcheinander.
»Ja mir auch. Ich hab alles und jeden alleine gelassen. Wer ahnt noch, dass ich den Unfall meiner Eltern verursachte?«, fragte Mama vorsichtig.
»Niemand, ich hab im Stall geschlafen, weil ich so ein ungutes Gefühl die ganze Zeit hatte und dann mitten in der Nacht wurden die Pferde unruhig und ich wurde wach. Ich hab draußen nachgesehen und Rocky gesehen. Er hat überall geblutet und hatte schmerzen. Es sah echt nicht gut für ihn aus, aber ich habe ihn gewaschen und erstmal versorgt. Da mein Papa Tierarzt war, wusste ich ganz genau wie ich ihn helfen konnte. Ich habe eine Spritze aus seinem Medizinschrank genommen und Schmerzmittel. Seine Wunden habe ich soweit es ging versorgt und dann ging es auch wieder. Er hatte unglaublich Glück gehabt. Meinen Eltern erzählte ich am nächsten Morgen das Rocky sich auf der Wiese verletzt hatte und ob sie es mir glaubten, denke ich eher weniger, aber sie haben mich niemals wieder darauf angesprochen. Auf jeden Fall glaube ich auch nicht, dass sie geahnt haben, dass er vom Auto angefahren wurde.
Zuerst wusste ich natürlich auch nichts von dem Unfall und habe mich über diese Verletzungen gewunder, aber als ich gehört hatte was passiert war, konnte ich eins und eins zusammen zählen und war mir fast zu 100% sicher, dass er angefahren wurde.«
»Und was hast du dann mit ihn gemacht?«, fragte Mama leise.
»Geritten, Gefördert und auf Turnieren vorgestellt. Ich konnte ihn in keinster Weise das geben was du ihn immer gegeben hattest und das merkte man ihn an, er war nicht mehr der alte. Als meine Tochter Theo alt genug war, ritt sie ihn regelmäßig und ist mit ihn eine Einheit geworden. Sie gehen immer noch erfolgreich auf Turniere, aufgrund seines Alters von 19 Jahren zwar nicht mehr auf so anspruchsvolle wie früher, aber er ist noch ziemlich fit.«
»Ist er hier?«, fragte Mama während sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten.
»Ja das ist er, er steht in der selben Box wie vor 15 Jahren. Willst du ihn sehen?«
Mama sagte nichts, sie sprang auf und eilte zur Haustür, sie ging raus und geradewegs zu den Stallungen.
Sabine folgte ihr und sie gingen zusammen in den Stall.
Ganz hinten, in der letzten Box, stand er.
Mama ging langsam zu seiner Box, sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurück halten. Sabine hielt sich im Hintergrund und ließ Mama alleine zu Rocky gehen.
Mama Pfiff einmal und Rocky drehte sich sofort in ihre Richtung.
»Hey mein Baby, hey du«, sagte Mama mit gesenkter Stimme und öffnete seine Boxentür.
Er erkannte sie sofort und wieherte ihr freudig entgegen. Mama sackte auf ihre Knie und Rocky streckte seinen Kopf ihr entgegen. Sie gab ihn einen dicken Kuss und streichelte ihn hinterm Ohr.
»Es tut mir so leid mein Baby, ich lasse dich nie mehr alleine, hörst du«, sagte Mama weinend und streichelte Rocky ausgiebig.
Jetzt trat auch Sabine an die Box heran und streichelte Rocky durch seine graue Mähne.
»Er hat sich kaum verändert, er sieht noch so aus wie damals«, meinte Mama während sie immernoch im Stroh saß und Rocky über seine weichen Nüstern streichelte.
»Das stimmt«, meinte Sabine und hielt Mama eine Möhre hin.
»Hier gib ihm die.« Sabine gab Mama die Möhre und setzte sich neben sie ins Stroh.
»Wie kommt es, dass du nie bemerkt hast, dass Rocky noch lebt, ich meine er hat unzählige  Europameisterschaften gewonnen und sogar drei Weltmeisterschaften, dazu kommen noch unzählige Meisterschafts- und Derbysiege. Also irgendwas hättest du ja hören müssen«, sagte Sabine.
»Nein ich hab nie was gehört, denn ich habe mich komplett davon distanziert. Conni durfte nicht Mal einen Pferdefilm sehen weil ich es nicht konnte. Ich habe kein Turnier angesehen, nicht im Internet danach gesucht und auch nie ein Sterbenswörtchen darüber verloren. Das einzige was wir über Pferde im Haus hatten war ein Buch, und das liebt Conni.«
»Also zuerst einmal ist es krass, dass du das so durchgezogen hast, denn du warst immer so Pferde verrückt und nichts konnte dich davon fernhalten. Du hast sehr viel verpasst. In seinen jungen Jahren habe ich ihn in Beritt gegeben und dort wurde er schonend von ganz tollen Reitern weiter gebildet und sehr erfolgreich auf Turnieren vorgestellt. Seine Decktaxe beträgt mittlerweile rund 1500€ und sein Verkaufswert liegt im mehreren Millionen Bereich. Er ist eine kleine lebende Legende.«
»Hast du jemals darüber nachgedacht ihn zu verkaufen?«, fragte Mama vorsichtig.
»Natürlich habe ich sehr verlockende Angebote bekommen und ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass der Verkauf von Rocky mir nichts erleichtert hätte, denn es hätte mir viele Dinge erleichtert. Aber ich wusste was er dir bedeutet und ehrlich gesagt hab ich nie wirklich an ihm verdient. Natürlich gab es saftige Prämien für die Meisterschaftssiege aber davon musste ich auch ordentlich viel wieder an die Bereiter zahlen und Rocky hat bis jetzt keine Nachzucht, denn ich war der Meinung, dass ich mich an ihn nicht bereichern kann, das wäre falsch gewesen. Also um ehrlich zu sein habe ich nur minimal Plus mit ihm gemacht.«
»Danke Sabine, das bedeutet mir viel. Ich glaube ich hätte nicht so selbstlos entschieden und das rechne ich dir wirklich hoch an. Du bist eine unbeschreiblich tolle Freundin«, meinte Mama mit Tränen in den Augen und umarmte Sabine.
»Das habe ich unglaublich gerne gemacht, für so ein tolles Pferd zu sorgen war mir eine Ehre. Außerdem war er ein großartiger Lehrmeister für Theo.«
»Theo hat ihn gerne, hab ich Recht?«
»Ja und es wird ihr das Herz brechen wenn sie erfährt, dass du seine Besitzerin bist. Auch wenn sie dich nicht kennt, hasst sie dich. Sie hasst dich nicht, weil sie blöde Dinge über dich gehört hat oder weil sie bösartig ist, sie hasst dich weil sie Angst davor hat, dass du ihn ihr wegnimmst und weil sie nicht nachvollziehen kann wie man so ein tolles Pferd im Stich lassen kann.«
»Das tut mir leid...«, sagte Mama und senkte ihren Kopf zu Boden.
»Es ist halt so, dafür brauchst du dich nicht entschuldigen. Es ist einfach alles blöd gelaufen und ich denke Theo wird es verstehen.«
Mama zuckte mit den Schultern und stand vom Boden auf.
Sie ging zu den anderen Boxen und schaute hinein.
»Das ist Dirt, stimmt's?«, fragte Mama aufgeregt und öffnete die Boxentür.
»Und wie er es ist. Wie hast du ihn erkannt, vielleicht durch sein Schmutzige aussehendes Fell?«, witzelte Sabine.
»Er sieht noch genauso dreckig aus wie früher«, meinte Mama lachend und streichelte Dirt.
»Ich weiß noch ganz genau wie wir Rocky und Dirt benannt haben. Zuerst wusste wir nicht wie wir sie nennen wollten und dann haben wir sie ein paar Wochen beobachtet und dann war es einfach da.«
»Oh ja, der Dirty Boy und Rock my Life, es kam einfach mit der Zeit. Ich weiß noch deine Eltern konnten sich nicht mit einem einfachen Namen zufrieden geben, es musste einer sein der Erfolg ausstrahlt. Und da Rocky es alles andere als leicht hatte, war Rock my Life einfach treffend«, meinte Sabine schmunzelnd und streichelte ihren großen Wallach ausgiebig.
»Ja und Dirty Boy war ganz klar, sein Fell, er sieht immer dreckig aus«, lachte Mama.
»Oh ja Dirt war schon immer ein kleiner Dreckspatz, aber mein kleiner Dreckspatz«, strahlte Sabine.
»Rocky und Dirt, die ungleichen Brüder, schon seit Tag eins zusammen«, sagte Mama sehnsüchtig und schaute sich in den anderen Boxen um.
»Oh ja, die beiden hatten ja auch keine andere Wahl«, lachte Sabine und gab Dirt eine Möhre.
»Stimmt, aber sie haben sich auch sofort verstanden, zum Glück«, ergänzte Mama.
»Ich glaube hätte Rockys Mama die Geburt überlebt und hätte Dirt seine nicht teilen müssen, wären sie niemals so unzertrennlich geworden.«
»Oh ja Sabine, es war eine ziemlich dramatische Geburt. Aber Rocky war aber auch ein Riese und seine Mama klein und zierlich. Es war ziemlich schade um die Stute, sie war gut und noch so Jung, und wie man an Rocky sieht war sie eine Siegermama gewesen und wir hätten bestimmt noch weitere Erfolgsfohlen aus ihr ziehen können. Aber naja Dirts Mama war eine unglaublich gute Ziehmutter und hat Rocky zum Glück sofort angenommen.«
»Es war einfach Schicksal...«

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