Es wird ernst

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Viel schlief ich in dieser Nacht nicht mehr.
Ich war die Erste, die wach wurde.
Das einzige Geräusch, welches ich hörte, war Juliens gleichmäßige Atmung.
Still und heimlich, wie ein Löwe auf der Lauer, beobachtete ich den nackten Oberkörper neben mir.
Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Er sah gut aus, wie er so da lagt. Die Decke nur bis zur Hüfte hochgezogen und die Muskeln angestrahlt von der Sonne. Seine Verletzungen sahen auch nicht mehr ganz so schlimm aus. Oder besser gesagt, ich hatte mich an diesen Anblick gewöhnt.
Auf der Seite gestützt sah ich ihn noch lange beim schlafen zu.
Auch er hatte nur schlecht geschlafen. Viele Alpträume quälten den Jungen.
Er redete im Schlaf und obwohl ich nur ein paar Wortfetzen verstand, wusste ich, dass er von seinem Vater träumte. Er musste wohl wirklich schlimmes durchlebt haben.

Als er dann endlich auch aufwachte, sah er mich mit Verschlafenen Augen an.
»Guten Morgen du Faultier«, begrüßte ich ihn lachend.
»Selber Faultier«, gab er lachend zurück.
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du schnarchst«, meinte er nach einer Zeit lachend und setzte sich auf.
»Tu ich überhaupt nicht«, verteidigte ich mich lachend und warf ihn mit einem Kissen ab.
»Doch ehrlich«, lachte er und warf zurück.
Das war der Startschuss einer wilden Kissenschlacht.
Es erinnerte mich an meine Schlachten mit Nick und Till. Ein wenig in Gedanken versunken vergaß ich, dass Julien vor mir saß und nicht Till oder Nick.
Ich holte mit dem Kissen aus und schlug mit voller Wucht zu. Es tat ihm weh.
»Oh Gott, entschuldige! Es war nicht meine Absicht«, sagte ich schnell panisch und sah Julien, der schmerzvoll das Gesicht verzog, geschockt an.
»Nein, ist in Ordnung Conni, alles ist gut«, sagte er um mich zu beruhigen.
An seiner Stimmlage und seinem Blick merkte ich aber, dass nicht alles in Ordnung war.
Er hatte wirklich schmerzen.
»Wir sollten hoch gehen«, sagte ich bestürzt und stand vom Bett auf.
»Conni, du kannst da nichts für«, versuchte er mich zu beruhigen.
»Ich weiß, aber ich hätte es besser wissen müssen«, sagte ich selbstkritisch und ärgerte mich über mich selber.
Ich ging nach oben und Julien folgte mir ohne ein Wort.

Sein Ebenbild stand im Wohnzimmer und stellte gerade ein paar Teller auf den Tisch.
»Da seid ihr ja. Charlie und ich hatten soviel Platz heute Morgen im Bett«, lachte Anton.
»Wir wollten dich nicht wecken. Nachdem Julien und ich...«
»Ich will's gar nicht so genau wissen«, unterbrach Anton mich mit einem verschmitzten Lächeln.
»Anton du bist schrecklich«, lachte nun auch Julien von hinten.

Mama kam mit einem Teller Pfannkuchen an den Esstisch und setzte sich zu uns.
»Wo ist Papa«, fragte ich während ich mir Apfelmus auf meinen Pfannkuchen kleckste.
»Er hat gerade ein Krisengespräch mit Opa in der Kanzlei. So recht wissen wir alle gerade nicht was wir tun sollen.«
»Was ist denn jetzt der nächste Schritt«, fragte Anton interessiert und schob sich ein Stück seines Pfannkuchen in den Mund.
»Ich hab keine Ahnung, wir müssen auf Julius warten. Er sollte aber auch schon bald da sein.«
Es war viertel vor zehn und Papa war wirklich schon lange weg. Ich hörte ihn, als er so gegen sieben das Haus verlassen hatte.

Noch bevor wir fertig gegessen haben, stand Papa auch schon in der Tür.
Er war aufgebracht und irgendwie selber ein Stückweit ratlos.
»Ich hab mit meinem Team alles durchgesprochen und das Einzige, was wir jetzt tun können, ist vielleicht nicht ganz in eurem Sinne. Wir können nur das Jugendamt informieren - es tut mir leid.«
»Aber das haben wir doch schon! Die kennen doch unsere Geschichte«, sagte Julien aufgebracht und schlug auf den Tisch, sodass das ganze Geschirr klirrte.
»Das letzte Mal als sie bei uns auf der Matte standen, spielten Mama und Papa die perfekt liebenden Eltern vor. Nachdem die Tante vom Jugendamt aber wieder weg war, wurden wir wieder grün und blau geprügelt. Natürlich waren Julien und ich nochmal bei der Frau im Büro, aber sie musste uns enttäuschen. Unsere Verletzungen waren nicht eindeutig genug und sie sagte, dass unsere Eltern keine Gründe hatten uns zu Misshandeln - keine Geld-, Alkohol- oder Beziehungsprobleme. Außerdem werden wir beide im Juni 18, es lohnt sich nicht uns aus der Familie rauszuholen - ist die Frau zumindest der Meinung«, erklärte Anton viel ruhiger als sein Bruder.
»Jungs, ich verstehe euch, aber wir haben keine andere Wahl. Das Jugendamt ist alarmiert und wird gegen 16 Uhr hier sein«, meinte Papa ernst.
Ich sah den Jungs die Angst ins Gesicht geschrieben. Dass die Jungs früher oder später nach Hause zurück mussten, war uns allen klar. Aber dass, das Jugendamt sich wieder einmischte und die Situation wieder verschlimmern konnte, darauf hatten wir nicht gehofft.

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