"Sicher, dass das eine gute Idee ist?", fragte Gabi ein weiteres, ein letztes Mal nach.
"Überhaupt nicht! Aber ich muss gehen", erwiderte Jane seufzend die Frage, während sie ein weinrotes Kleid aus dem Schrank zog. "Was meinst du zu dem hier?"
"Schrecklich! Wag es ja nicht! Lass mich doch etwas aussuchen, bevor du noch ein Verbrechen an der Mode begehst." Gabi schubste ihre beste Freundin und Arbeitspartnerin zur Seite und stellte sich seufzend vor den Schrank. Mit spitzen Fingern zog sie eine schwarze Robe heraus. "Ich verstehe dich auch nicht... warum bewahrst du deine alten Schulroben auf? Und vor allem dann, wenn sie so unfassbar hässlich und trist sind!"
"Gabi!", fauchte Jane lachend.
Abwehrend hob diese die Hände. "Ok, ich habs verstanden. Aber jetzt erklär es mir nochmal. Du gehst zu dieser obergeheimen Veranstaltung an irgendeinem Ort, den ich nicht kenne, weil...?"
"Weil mein Dad mich darum gebeten hat." Jane seufzte. Ihr Dad... lange hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Und in der erste Nachricht, die sie erreichte, bat er sie, nach London zu kommen. Nach London! Und dann ausgerechnet in eine Veranstaltung für die gehobene Gesellschaft der Zauberer. Jane war sofort klar gewesen, dass es sich dabei um eine Ansammlung an reinrassigen, muggelverachtenden Zauberern handelte.
"Wow. Dein Dad, der dich einfach ignoriert hat in den letzten Jahren? Der Mann?" Gabi war immer noch aufgebracht und gestikulierte wild.
"Ich weiß, es ist alles sehr dubios. Aber du kennst ihn nicht. Er hatte es nicht immer leicht." Sie seufzte erneut, tief und schwer.
"Du lässt dich echt nicht davon abbringen, nicht? Na gut, dann soll es eben so sein. Immerhin... habe ich das passende Kleid für dich gefunden." Strahlend hielt ihre Freundin ihr ein blassviolettes Stück unter die Nase.
"Das?" Skeptisch rümpfte Jane die Nase.
"Das. Und jetzt setz dich hin und sei ruhig. Wir müssen dich aufpeppen. Vielleicht, wer weiß, gibt es ja irgendwelche gutaussehende Männer, deren Kopf nicht nur aus Watte und Vakuum besteht!" Sie würde es nie aufgeben.
Während Gabi also um ihren Kopf herumschwirrte und sie für den Anlass zurecht machte, hatte Jane Zeit, sich Sorgen zu machen. Die Nachricht ihres Vaters war nicht so überraschend gekommen, wie sie es Gabi gesagt hatte. Doch ihr mitzuteilen, dass sie per Kamin ab und an mit ihrem Dad sprach, hätte sie wohl völlig aus der Fassung gebracht.
Ihr Dad, das war Jonathan James Sharpe, Sohn von Lord James William Sharpe. Ihr Großvater war bekannt, berühmt ja. Für seine Grausamkeit unter Gellert Grindelwald, vor vielen Jahrzehnten. Ihr Dad war ganz anders. Sanft lächelte Jane. Er hatte sich gegen diesen Weg entschieden, als einziger seiner Familie. Er hatte sich gelöst, eine andere Gruppe gefunden, der er sich anschließen konnte. Der Orden des Phönix unter Albus Dumbledore war das glatte Gegenteil zu den Todessern.
Schon von diesen wenigen Gedanken an die Zauberwelt bekam Jane Kopfschmerzen. Sie schüttelte sich leicht und bekam prompt einen Schlag in die Seite. Fluchend griff Gabi sich einige Abschminktücher.
Jane hatte sich vor langer Zeit von den Zauberern und Hexen abgewandt. Nach der Schreckensherrschaft Voldemorts war sie zerbrochen gewesen. Sie hatte Abstand gebraucht und heute, elf Jahre später, führte sie ein Leben, das keinerlei Magie gebrauchte. Sie dachte an den weißen Zauberstab aus Birke mit einem Kern aus Drachenherzfaser. Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr benutzt. Heute war die Premiere.
"So! Fertig!" Stolz trat Gabi einige Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Auch Jane ließ prüfend ihre Augen über ihre Erscheinung wandern. Doch, so konnte sie der Gesellschaft vorgeführt werden. Wenn sie Pech hatte, würden irgendwelche Journalisten dort lauern, sofort bereit dazu, ihre Lebensgeschichte wieder auszukramen und der Öffentlichkeit zu erklären.
Ihr blasses Gesicht sah ihr entgegen. Die haselnussbraunen Augen waren groß, sahen unschuldig in den Spiegel. Sie runzelte verärgert die Stirn. Sie musste heute stark sein, ohne dabei aufzufallen. Sie durfte sich keinen einzigen, noch so kleinen Fehler erlauben.
"Danke vielmals, Gabi! Du bist echt die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann!" Lachend schlossen sich die beiden Frauen in die Arme.
"Wann musst du da sein?", fragte irgendwann ihre Kollegin Jane.
"Wie spät ist es denn?", schoss sie zurück.
"Schon kurz vor Acht. Hattest du nicht gesagt..."
Doch Gabi konnte nicht mehr aussprechen, denn Jane hatte sich bereits in Windeseile ihre Tasche und ihren Mantel geschnappt. Aus dem Schlafzimmer holte sie ihren Zauberstab. Ohne ihn käme sie wahrlich nicht weit.
"Ich muss gehen! Machs gut, schönen Abend." Mit einer kurzen Umarmung verabschiedete Jane sich und stürmte dann zur Tür hinaus. Konnte sie von hier bereits apparieren? Gabi würde wohl kaum am Fenster stehen und darauf warten, dass Jane hinaus trat und sich ein Taxi rief.
Tief seufzte sie. Na dann, auf dass die Spiele begannen. Mit einem lauten Knall apparierte sie direkt in die Nokturngasse.
Der Mann, der sie in den alten Ballsaal einließ, hatte mit größter Verwunderung ihren Namen zur Kenntnis genommen. Jane konnte darüber nur den Kopf schütteln. Auch wenn sie aus einer der berühmtesten Reinblutfamilien stammte, war sie noch längst nichts besonderes. Und auch, dass man lange nichts von ihr gehört hatte, war kein Grund, sie jetzt so überrascht und irritiert anzusehen.
Bevor noch jemand sie ansprechen konnte, begab Jane sich zur Bar und ließ sich dort nieder, das Kleid elegant um sie ausfächernd. Immerhin ihre Manieren konnte sie noch aus der untersten Schublade auskramen.
Warum der Anlass stattfand, war Jane gleichgültig und sie war auch nicht interessiert daran, fadenscheinige Erklärungen anzuhören. Sie saß hier unter Todessern und dergleichen. Aus keinem anderen Grund waren sie zusammengekommen als dem, dass sie die Bande untereinander wieder enger verknüpfen wollten.
Ausnahmsweise gab es tatsächlich einen Barmann, bei dem sie prompt einen Scotch bestellte. Gedankenverloren starrte sie dem Zauberer bei seiner Arbeit zu. Sie lebte schon seit so vielen Jahren unter Muggeln, dass es ihr wundersam erschien, wie er mithilfe weniger gemurmelter Worte eine Flasche herbei schweben ließ und ihr einfüllte.
Sie nahm einen tiefen Schluck, ehe sie sich dem jungen Zauberer zuwandte. Dieser hatte sie mit unverhohlener Neugier angestarrt, doch als er in ihre Augen blickte, wandte er sich schnell ab. In seinen Augen blitzte ein Funken Panik auf.
"Sie sind neu hier, nicht?" Freundlich lächelnd versuchte Jane, ein Gespräch mit dem Barmann zu beginnen.
"Ja, Miss... Lady Sharpe", verbesserte er sich schnell.
"Oh, Miss reicht völlig." Sanft lachte Jane und schloss ihre Hände um das Glas. Sie wog es einige Sekunden in der Hand, ehe sie erneut einen Schluck nahm. "Wie heißen Sie?", erkundigte sie sich.
"Evans, Ma'am. Ich heiße Evans." Der junge Bursche wurde ganz rot, als er ihren forschen Blick auf sich spürte. Jane sah ihn förmlich vor sich zittern, wie ein Rehkitze vor einem wilden Wolf beben würde.
"Mister Evans. Seien Sie ganz unbesorgt. Ich schätze all jene Traditionen und Sitten, die hier hoch geachtet werden, überhaupt nicht. Wovor auch immer Sie sich fürchten, ich werde Ihnen nichts tun. Lediglich eine Frage habe ich an Sie." Wirklich entspannen tat sich der Zauberer nicht, doch immerhin hatte der panische Ausdruck in seinem Gesicht ein wenig Abklang getan. Was auch immer die Rassisten unter den Zauberern taten, es musste schrecklich sein. "Haben Sie meinen Vater, Jonathan Sharpe, gesehen? Groß, so dunkles Haar wie ich, vermutlich eine schwarze Festrobe. Nicht?" Enttäuscht nahm Jane die verhaltene Antwort zur Kenntnis.
Wo steckte er? Sie wollte so schnell wie möglich gehen. Hätte er nicht noch eine kleine Botschaft zum Schluss hinterlassen, wäre sie jetzt überzeugt gewesen, dass es ein übler Streich, eine Finte von einem Widersachen gegen sie war. Doch er musste verspätet sein und sie würde sich gedulden, immerhin hatte sie ihm dies versprochen. Gedankenverloren starrte sie auf ihr Glas.
Ein Räuspern erklang hinter ihrem Rücken. Gelassen fuhr sie herum. Wer auch immer ihre Gedanken störte, konnte sich auf eine eiskalte Abfuhr gefasst machen. Ihre scharfe Zunge hatte sie auch in den letzten Jahren nicht verloren.
Der blonde Mann kam ihr zu vertraut vor, als das sie ihn nicht kennen würde. Er starrte sie aus seinen stahlgrauen Augen an, eine Kälte im Blick, die sie gefrieren ließ. Doch sie würde sich nicht einfach von solch einem Ausdruck niedermachen lassen. Höflich fragte sie: "Ja bitte?"
Er reagierte nicht und Jane musterte sein Gesicht genauer. Die Haut war gepflegt, glatt, hell. Die Augen bohrten sich in ihr Innerstes und sie musste dem Drang widerstehen, seinem Blick auszuweichen. Die spitze Nase war förmlich dazu geboren, gerümpft zu werden. Er war herrschaftlich gekleidet und die stolze Haltung ließ ganz klar auf einen reichen Reinblüter schließen. Jane war überzeugt, dass er Todesser gewesen war. Am liebsten wäre sie gleich davon gelaufen.
Als er immernoch nicht reagierte, sie lediglich mit seinen Blicken erdolchte, räusperte sie sich einmal, zweimal. Plötzlich fuhr er hoch, als erwache er aus einer Trance. Jane runzelte die Stirn.
Die Stimme des blonden Mannes war tief, samten und verursachte eine wahre Gänsehaut bei ihr. "Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Miss Sharpe." Ehe sie auch nur reagieren konnte, hatte er ihr einen federleichten Kuss auf den Handrücken gehaucht. Sie widerstand dem Zwang, die Hand an ihrem Kleid abzustreichen.
Krampfhaft bohrte sie in ihrem Hirn nach etwas, einem Namen, irgendetwas. Der blonde Mann schien ganz eindeutig davon auszugehen, dass sie ihn kannte. Sie hätte schreien können. Was anderes hatte sich auch auf einer solchen Veranstaltung erwartet! Wie wahrscheinlich war es schon, dass sie keinem der anderen Anwesenden außer ihrem Vater auffiel.
Sie seufzte ergeben und meinte: "Tut mir Leid, aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wer Sie sind. Aber da Sie mich anscheinend kennen, wissen Sie wohl, dass ich lange Zeit der Zaubereigesellschaft ferngeblieben bin. Wer sind Sie?"
Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf die Züge des blonden Mannes. Jane konnte sich nicht dem Wunsch verwehren, sein ehrliches Lächeln zu sehen. Doch zugleich bezweifelte sie auch, dass er dazu überhaupt fähig war. "Mein Name ist Lucius Malfoy."
Sofort schossen ihr Bilder durch den Kopf. Krieg, Mord, Tote, Leichen. Überall, weinende Kinder, hilflos, kinderlose Eltern, schreiende Sterbende. Mehr als eine Dekade und sie hatte nie ihren tiefsten Schatten überwinden können. Sie hatte nie verhindern können, dass ihre Träume von der Finsternis ihrer Erinnerungen heimgesucht wurde. Er war immer da, der Horror des Krieges. Und er war ein Teil davon gewesen, Lucius Malfoy. Natürlich wusste sie, wer er war. Das Haus Malfoy. Mit Grauen dachte sie an ein Gespräch ihres Vaters und ihres Großvaters, das sie belauscht hatte. Sie war so jung gewesen und dennoch... das Grauen schüttelte sie.
"Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mister Malfoy." Die einfachste Methode, jemanden abzukanzeln, war es, einfach keine Unterhaltung zu führen. Sie nahm einen Schluck Scotch und hoffte, dass Mister Malfoy ihre Antwort schnell verstand.
An dem zynischen Lächeln erkannte Jane sofort, dass er ihr Vorhaben erkannt hatte und es nicht einsah, darauf einzugehen. "Sie haben eine bemerkenswerte Familie, Miss Sharpe. Oder soll ich Sie Lady Sharpe nennen?"
"Miss reicht völlig aus, Mister Malfoy." Er setzte sich auf den nächsten Barhocker und stellte sein Scotch-Glas ab. Der Barmann schenkte ihm nach, aufmerksam dem Gespräch lauschend. Jeglicher Tratsch, der an einer solchen Veranstaltung erzählt wurde, würde an die Öffentlichkeit raten, dessen war Jane überzeugt.
"Leben Sie in London?" Er ließ wohl wirklich nicht locker.
"Nein, Mister Malfoy", blieb sie stumpf einsilbig.
"Und wo leben Sie dann?"
"Paris."
"Haben Sie Familie?" Der Blick war forsch, vielleicht sogar etwas zu forsch.
Jane entschied, der Frage auszuweichen. "Warum fragen Sie das?"
"Ich weiß nicht. Vielleicht weil sie, wenn Sie einen Mann hätten, sicher nicht alleine hier wären." Er deutete auf den alten Ballsaal.
"Ich habe eine Familie, Mister Malfoy. Jedoch nicht in dem Sinne, den sie gerade im Kopf haben." Sie verschränkte die Arme und rutschte etwas auf ihrem Barhocker zurück. Unauffällig ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Nirgends konnte sie ihren Dad entdecken. Wo blieb er nur?
"Und wollen Sie mich aufklären, was für eine Familie sie dann haben?"
Langsam wurde es Jane wahrlich zu bunt. Sie runzelte die Stirn und funkelte den blonden Schnösel genervt an. Er sollte endlich verschwinden, sie hatte besseres zu tun. Und ganz abgesehen davon ging ihn ihre familiäre Leidensgeschichte rein garnichts an. "Sie werden mich entschuldigen, Mister Malfoy. Ich muss gehen. Einen schönen Abend." Auf kein baldiges Wiedersehen, hoffentlich.
Bevor er irgendetwas erwidern konnte, stürzte sie aus dem Ballsaal hinaus, griff sich ihren Mantel und apparierte mit einem lauten Knall zurück nach Hause. So hatte sie sich den Abend definitiv nicht vorgestellt. Sie musste einen Brief an ihren Vater schreiben. Und sie musste sich unbedingt wieder mit ihrer Familie auseinandersetzen. Jane stöhnte auf. Dieser Mister Malfoy hatte so einige Dinge ins Rollen gebracht, die eigentlich lieber ruhen sollten.

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Sarin
Romance[Lucius Malfoy FF] [ABGESCHLOSSEN!] Der Tagesprophet zerreißt sich über niemanden mehr das Maul als über die Familie Sharpe. Anhänger Grindelwalds, Unterstützer Voldemorts, Reinblüter und Adelstitel. Alles an dieser Familie hebt sie ab von anderen...