Kapitel 11

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In Norfolk war es kalt und regnerisch. Nichts erinnerte an die selige Ruhe und das Versprechen von Winter. Jane war in die Mitte der kleinen Ortschaft, die sie in ihrer Kindheit öfter besucht hatte, appariert. Niemand war auf den Straßen zu sehen und der Regen prasselte unangenehm auf sie nieder.
Jane zückte ihren Zauberstab, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auch wirklich niemand sie sah. Doch alles war ausgestorben, die Fenster waren geschlossen und es sah vollkommen unbewohnt aus.
Sie wartete einige Sekunden und verfolgte jedes Zucken des Holzstabes in ihrer Hand. Zunächst drehte er sich einige Male um seine eigene Achse, dann hüpfte er kurz auf und ab. Plötzlich drehte er ruckartig nach links und blieb in diese Direktion gerichtet.
"Auf geht's", seufzte Jane und spurtete schnell durch die nasse Kälte.
Ihre Füße platschten durch die vielen Pfützen und sie war froh um die Schutzzauber, die auf ihrem Schuhwerk lagen. Die Umgebung wurde leerer, die Häuser vereinzelter und die Zivilisation nahm ab. Noch immer deutete ihr Zauberstab in die gleiche Richtung.
Der Schotterweg, den sie jetzt entlang eilte, ließ Jane bezweifeln, dass es sich wirklich um einen Auftrag des Ministeriums handelte. Wenn es sich um einen schlechten Scherz handelte, war sie jetzt schon erbost. Immerhin war es nass, eisig und Sonntag.
Oder aber, es war kein Scherz. Ein Trick, eine Falle, um sie aus Hogwarts wegzuholen und sie zu überwältigen. Es gab einige, denen sie so etwas zutrauen würde. Allen voran ihr Großvater. Was auch immer er geplant hatte - denn dass er etwas austüftelte, war Jane klar - ihr gefiel es überhaupt nicht.
Gerade drohte schon die kalte Furcht ihr die Kehle zu zu schnüren, als sie etwas in einigen Dutzend Metern Distanz sah. Eine kleine Holzhütte, unscheinbar, halb im Straßengraben, doch Jane war hellwach. Aufmerksam durchsuchten ihre Augen die Umgebung. Nichts, niemand. Keine Regung war zu sehen. Nirgends.
Langsam ging sie näher auf das Gebäude zu. Nach einigen Metern erkannte sie einige Gestalten, die dort herumlungerten. Gerade wollte sie schon einen Schutzzauber auf sich wirken, als sie einen hochgewachsenen Mann erkannte.
Rufus Scrimgeour hatte sie scheinbar im gleichen Moment entdeckt und winkte sie herbei. Jane beeilte sich, zu ihrem Boss und den anderen Auroren zu kommen. Mit einem prüfenden Blick stellte sie fest, dass die anderen Anwesenden ausschließlich Männer waren und ihre Kleidung keinesweg auffiel. Beruhigt atmete sie aus.
"Mister Scrimgeour." Höflich nickte sie.
"Miss Sharpe, kommen Sie." Er führte Jane an ihren Kollegen vorbei und in das Innere der kleinen Hütte. Ganz anders als von außen vermuten ließ, war sie elegant eingerichtet und überaus geräumig. Kurz schmunzelte sie ob des Zaubers.
Doch zeitgleich schoss ihr eine Frage durch den Kopf. "Liegen keine Schutzbanne auf dem Gelände?"
"Doch. Sie sind jedoch ein Mitglied der heutigen Operationsgruppe und haben entsprechenden Zutritt erhalten. Setzen Sie sich. Tee?" Er reichte ihr eine Tasse, die sie dankend annahm. Sie ließen sich gegenüber voneinander nieder.
"Sie wundern sich sicher, warum ich Sie her beordert habe. Schließlich sind Sie ja noch keine vollwertige Aurorin. Wir haben für den heutigen Tag eine Razzia geplant. Eine hier ansässige Familie soll haufenweise schwarzmagische Artefakte besitzen. Wir hatten eigentlich einen anderen Auroren einsetzen wollen, jedoch ist er... verhindert." Die Halbwahrheit hinterließ einen bitteren Geschmack. Verhindert hieß wohl soviel wie nicht einsatzfähig.
"Das Vorgehen ist wie folgt: Die Familie wurde bereits von einem Gutachter besucht, hat ihn jedoch nicht eingelassen. Verwarnung und Mahnung haben ebenfalls nicht geholfen, daher werden wir das Anwesen nun stürmen. Die Auroren werden wie folgt vorgehen: Drei Männer werden sicherstellen, dass keine Familienmitglieder fliehen und auch Hauselfen keinerlei Artefakte entfernen. Zwei weitere Auroren werden durch die Vordertür Einlass verlangen. Die restlichen Auroren, dass heisst auch Sie und ich, werden durch den Hintereingang das Haus betreten. Im Inneren gehen wir so vor, dass ein Auror die Hauselfen informiert. Als Obrigkeit besitzen sie Einfluss über die Wesen. Ihre Aufgabe wird es sein, die Artefakte sicherzustellen. Sie werden von Johnson begleitet. Das Obergeschoss ist laut unserem Beobachter besonders von Interesse. Wir werden Ihnen den Rücken freihalten, jedoch werden auch Sie sich durchkämpfen müssen. Gehen Sie schnell, leise und unauffällig vor, aber Ihr Schutz ist höher zu werten als der Erfolg dieser Mission."
Jane unterdrückte nur schwer ein spöttisches Schnauben. Ihr Leben vor dem Erfolg der Mission? Sie war überzeugt, dass dies nicht die Worte waren, die an andere Auroren gerichtet wurden. Ganz im Gegenteil. Dennoch nickte sie und erklärte: "Ich verstehe. Sie werden dann zu mir aufschließen?"
"Völlig richtig. Und nun kommen Sie. Der Tag wird auch nicht besser."
Wie auf einen unhörbaren Ruf stellten sich alle anwesenden Auroren vor ihrem Leiter auf, die Zauberstäbe bereit in der Hand, den Rücken gereckt und die Augen fokussiert auf sie gerichtet. Rufus Scrimgeour trat einen Schritt nach vorne. "Wie bereits angekündigt ist Alastor Moody nicht in der Lage, an der heutigen Razzia teilzunehmen. Ich übernehme daher das Kommando, zusätzlich wird das Team im Haus von Jane Sharpe angeleitet. Achten Sie gut auf ihre Sicherheit. Jetzt lassen sie uns gehen."
Die Gruppe setzte sich zügig in Bewegung und zunächst hielt Jane sich an den Aurorenleiter. Die anderen Männer waren ihr unbekannt und die abfälligen Blicke waren ihr unangenehm. In einigen Augenpaaren konnte sie wahre Abscheu erkennen. Nur kurz entsann sie sich an den Artikel im Tagespropheten zurück. Jane konnte es ihnen nicht verübeln.
"Bei wem findet die Razzia eigentlich statt?", kam es ihr plötzlich in den Sinn. Noch war sie nicht nervös, es erschien ihr alles viel zu irreal.
"Familie Carrow. Kennen Sie sie?" Ihr geschockter Gesichtsausdruck war ihm wohl Antwort genug. "Keine Sorge, wir garantieren für Ihren Schutz. Man wird es nicht wagen, jemanden auf Sie anzusetzen."
Nur schwer unterdrückte sie ein zynisches Schnauben. Kennen war untertrieben. Immerhin zeigte das, dass Rufus Scrimgeour kein Fanatiker ihrer Familie war und diese zweifelhafte Aufmerksamkeit und die Achtung bezüglich ihres Wohlbefindens nicht seine Idee war. Kennen - ihre Mutter war eine Carrow durch und durch. Das Drama würde riesig sein. Sie konnte nicht verstehen, warum es ihr nicht sofort klar geworden war. So viele Zaubererfamilien würde es in Norfolk wohl kaum geben.
Schweigend ging Jane nun neben dem Leiter her und ließ sich etwas zurückfallen. Zusammen mit einem jungen Mann stapfte sie durch das kalte, regnerische Nass. In ihren Gedanken schossen Szenarien umher.
Sie würden einander auf dem Landsitz begegnen, ihre Mutter würde sie in Hogwarts aufsuchen, die Carrows würden versuchen, sie auf ihre Seite zu ziehen und, wenn das scheiterte, sie zu ermorden probieren. Alles war möglich bei diesen Wahnsinnigen.
Mit Grauen dachte Jane an allfällige Besuche bei den Carrows in ihrer Kindheit. Alecto und Amycus Carrow waren etwa im selben Alter gewesen und hatten sie verabscheut. Sie hatte damals all das verkörpert, was sie selbst sein wollten. Die Tochter von Lord Sharpe. Die Nichte von Julian Sharpe. Die Alleinerbin der Linie Sharpe. Die Folter von Tieren vor ihrer Nase waren nur die Spitze des Eisbergs gewesen.
Jane hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass sie den Landsitz erreicht hatten. Das Haus war herrschaftlich, edel und das weitläufige Areal ließen es genau gleich wie so viele andere Anwesen aussehen.
Jane legte vorsichtshalber einen leichten Zauber auf sich selbst, der sie unscheinbarer wirken ließ. Solange sie im Gebüsch blieb, war es nahezu unmöglich, sie wirklich zu sehen. Man musste schon gezielt nach ihr Suchen, um sie zu entdecken.
Ein befreiendes Nicken von Rufus Scrimgeour und die Auroren strömten aus.
Jane eilte zusammen mit dem großen Teil um das Haus herum und zum Hintereingang. Das Wetter spielte ihnen in die Hände, niemand war draußen zu sehen. Ohne ein Zeichen von den beiden Auroren an der Eingangstür abzuwarten, eilte der junge Mann, mit dem sie zuvor gegangen war, vor.
"Alohomora." Die Tür schwang auf.
Jane war verwirrt. Wenn sie nicht alles täuschte, lagen mehrere dutzend Zauber auf dem Haus, um es vor Einbrüchen und auch Razzien zu schützen. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich Gedanken über so etwas zu machen.
Die Auroren eilten geschwind und leise hinein. Wie vereinbart machte Jane sich sogleich auf ins Obergeschoss, aufmerksam hin und herschauend. Die eleganten Gänge riefen kaum Erinnerungen hervor und wenigstens ein Teil in ihr konnte sich entspannen. Keine toten Tiere, fiese Fallen und böse Streiche. Alles war ruhig, fast schon zu ruhig.
Den Zauberstab gezückt, hinter ihr erneut der junge Mann, trat sie an die erste Tür heran. Er nickte aufmunternd. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter und öffnete sie. Der junge Mann betrat als erster den Raum, bereit, einen Schockzauber zu wirken, sollte jemand sich in dem Raum befinden. Sie folgte ihm.
Das Schlafzimmer war edel, überladen und schrie förmlich das Wort Reinblut. Die wenigen Gemälde waren leer. Ansonsten hätte ihr Kollege sicherlich gewusst, was zu tun war. Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht!
So schnell wie sie den Raum betreten hatte, verließen sie ihn auch wieder. Ein gemurmeltes Homenum Revelio, welcher kein Ergebnis brachte, reichte vorerst aus. Erst wenn sie alle Bewohner festgesetzt hatten, würden sie mit der Durchsuchung beginnen.
"Colloportus." Die Tür verschloss sich auf Janes Worte hin und der Auror setzte ein Siegel daneben.
Fragend sah sie ihn an. "Nur ein Mitglied der Aurorenzentrale kann die Tür jetzt noch öffnen", erklärte er leise flüsternd.
Sie gingen weiter und auch die nächsten Räume waren ereignislos. Weder Menschen noch auffällig vielen schwarzmagischen Gegenständen begegneten sie. Fast schon keimte in die Jane die Hoffnung auf, dass kein Bewohner zu Hause war.
Die nächste Tür war breiter, dunkler und edler gehalten. Irgendetwas zuckte in ihren Erinnerungen auf. "Die Bibliothek", meinte sie leise. Fragend sah ihr Begleiter sie an, doch sie winkte nur ab. Jetzt war keine Zeit für eine Märchenstunde.
"Alohomora." Die Tür klickte auf und wie zuvor eilte Jane dicht hinter dem Auroren in den Raum hinein. Sie beide gefroren in der Bewegung, als sie die schwarz gekleidete Gestalt mit gezücktem Zauberstab sahen.
"Impedimenta!" Amycus Carrow war gealtert und doch konnte Jane ihn unschwer erkennen. Ihr Kollegen stürzte gefesselt zu Boden.
Sie zückte ihren Zauberstab, doch hielt sie inne. Ein wahnsinniges Grinsen stahl sich auf das Gesicht ihres Gegners. "Cousinchen! Dass ich dich noch einmal sehe. Eine Überraschung, wirklich. Ich dachte, du wärst schon längst tot. Schade. Aber das können wir von mir aus gerne ändern. Was meinst du?" Lässig stand er ihr gegenüber, während es in Jane raste. Ihr Herz pochte, ihr Kopf schmerzte, ihr war schlecht und ihre Hand zitterte. Erinnerungen drohten, sie mitzureißen.
Doch sie fing sich und zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen: "Wag es nicht."
"Sonst was? Willst du mich -"
Ein heller Funken schoss aus Janes Zauberstab. Amycus riss seinen hoch und wehrte den Zauber ab. "Ach Cousinchen. Wie dreist. Da hat dir wohl niemand mehr eingebläut, wie man sich zu verhalten hat. Levicorpus!"
Mühelos wehrte Jane den Zauber ab. In ihrem Kopf dröhnte und brannte es. Sie packte ihren Stab fester, umklammerte ihn wie eine Ertrinkende in äußerster Not. Der ungesprochene Zauber schoss wie eine Flamme hervor und raste auf Amycus zu.
Eine hellblaues Netz hüllte ihn ein und schütze ihn dennoch kaum. Durch die Wucht wurde er nach hinten geschleudert und krachte mit einem dumpfen Geräusch gegen die Wand. Ein klägliches Stöhnen war zu hören, als der Zauber nachgelassen hatte.
"Was haben Sie gemacht?", fuhr ihr Kollege sie an.
Verwundert stockte sie. "Ich? Was hat er gemacht!"
"Nein, Miss Sharpe. Was haben Sie gemacht? Sie haben ihn angegriffen. Nicht umgekehrt." Zornig funkelte er sie an.
"Ja, aber...", setzte sie an.
"Nichts aber. Seien Sie froh, wer Sie sind und wessen Schutzhand über Ihnen schwebt." Die teuflische Miene jagte ihr Angst ein und sie stolperte rückwärts. "Sie bleiben jetzt hier bei Ihrem Cousin", er spuckte das Wort aus, "und ich sehe mich um. Klar? Und wagen Sie es nicht, irgendetwas anderes zu tun."
Als der Auror weg war, ließ Jane sich auf den nächstbesten Sessel fallen. Jegliche Energie war von ihr abgefallen und sie bedachte Amycus, der immer noch zusammengesackt an der Wand lag, eines gleichgültigen Blickes.
Sie war so dumm. Wie hatte sie nur glauben können, dass man sie wirklich zur Aurorin hatte machen wollen? Diese Aufnahmeprüfung... ein Witz. Warum fiel ihr erst jetzt auf, dass das unmöglich der Ernst des Ministeriums sein konnte? Und dann diese absolute Katastrophe gleich auf ihrem ersten Einsatz! Wenn die Auroren ihr zuvor kritisch gegenüber gestanden hatte, konnte sie es ihnen jetzt nicht einmal verübeln, wenn sie sie verabscheuten. Trocken lachte Jane.
Wie immer. Der Name, dann die Person. Und wenn etwas nicht passte, dann war immer sie selbst das Problem. Nach ihrem Einsatz im Krieg hätte man meinen können, dass sie und ihr Vater von jeglichen Anschuldigungen und Vorurteilen befreit worden waren.
Ihr Vater... bis auf wenige Briefe hatten sie miteinander fast nichts mehr zu tun gehabt. Vielleicht war es an der Zeit, ihn wieder aufzusuchen. Zum Glück wusste sie mittlerweile, wo er war.
Der Auror kehrte zurück und erklärte: "Alles sauber. Nehmen Sie Ihren Cousin und dann verschwinden wir. Oder ich nehme ihn und bringe ihn gleich ins St. Mungos." Jane folgte ihm mit hängenden Schultern.


Eine Woche war vergangen, bis sie hierher hatte kommen können.
Das kleine Haus war blau, heruntergekommen und einsturzgefährdet. Jane musste lächeln. Es sah noch genauso aus wie früher. Ihr hätte in den Sinn kommen sollen, dass es ihn hierher ziehen würde. Ein Haufen an schönen, friedlichen Erinnerungen. Kein Drama, kein Krieg. Nichts. Es war Heimat und zugleich Urlaub.
Vorsichtig öffnete Jane das schief in den Angeln hängende Gartentor und ging über den zugewachsenen Kiesweg hin zur Eingangstür. Es knirschte unter ihren Füßen. Vor der blauen Tür blieb sie stehen und zögerte für einen Moment. Wie konnte sie ihn begrüßen? Ohne weiter nachzudenken, klopfte sie. Er war ihr Vater. Eine solche Frage sollte sie sich nicht stellen.
Es blieb ruhig. Erneut klopfte sie. Vielleicht war er ja doch nicht hier? Seit seinem letzten Brief war einige Zeit vergangen und man wusste nie, was ihn gezwungen haben könnte, diesen Ort wieder zu verlassen.
Es blieb ruhig. Seufzend trat Jane einige Schritte zurück und blickte ein letztes Mal auf das Haus. Irgendwann würde sie wiederkommen und es renovieren - auch äußerlich. Irgendwann - vielleicht hatte sie ja dann einen Mann und Kinder? Sie könnten hier einziehen und sich ein Leben fernab von jeglichem Drama, Chaos und den vielen Gefahren aufbauen. Es klang in ihren Ohren wie ein Versprechen.
Plötzlich schwang die Tür auf.
Der ältere Mann hatte schütteres Haar und eingefallene Wangen, doch sein Gesicht strahlte beinahe greifbare Freude aus. Den einen Arm auf eine Krücke gestützt, humpelte er aus der Hütte heraus und streckte die Arme nach ihr aus.
"Papa!" Jane stürzte ihm entgegen und schloss seinen ausgemergelten Leib in eine feste Umarmung.
Er erwiderte sie und flüsterte heiser, die Tränen waren zu hören: "Ich habe dich so vermisst, mein kleiner Engel."
Jane löste sich ein wenig von ihm und erst in diesem Moment fiel ihr auf, wie krank ihr Vater doch aussah. "Komm, wir gehen hinein." Vorsichtig nahm sie seinen Arm und half ihm zurück ins Haus. Seine Schritte waren schleppend und sein Atem ging rasselnd.
Ohne überhaupt etwas von der Umgebung mitzubekommen, führte sie ihn ins Wohnzimmer und half ihm, sich in seinen Ohrensessel zu setzen. Sogleich eilte sie in die Küche und setzte einen Tee auf. Nur der Gedanke reichte und die Küchengegenstände begannen eigenständig zu handwerken und einen Haferschleim mit etwas Honig vorzubereiten.
Als das Wasser wieder heiß war, kam sie zurück ins Wohnzimmer. Ihr Vater saß zusammengesunken auf seinem Stuhl und ab und an war ein leises Schnarchen zu hören. Jane musste schmunzeln, doch ihr Lächeln erlosch genauso schnell.
Wie hatte das nur passieren können? Ihr Blick wanderte über den kaputten Körper ihres Vaters, die knöchernen Hände und die eingefallenen Wangen. Wie hatte sie nur eine so schlechte Tochter sein und für ihren Vater keine Sorge tragen können? Warum nur hatte sie nie nach ihm gesehen? Wieviel hätte es sie gekostet? Einmal ihren Zauberstab benutzen. War ihr das Wohlergehen ihres Vaters so wenig wert?
Weinen half jetzt auch nichts.
Vorsichtig wirkte sie einen Schwebezauber auf seinen Körper und bugsierte ihn die Treppe nach oben. Alles war sauber und aufgeräumt, was Jane einerseits nicht überraschte, andererseits ihre Schuldgefühle nur verschlimmerte. Sie war wohl die grässlichste Tochter, die es gab. Schwer schluckte sie.
Das Schlafzimmer war schlicht und das Bett gemacht. Sie schlug die Decke auf und ließ ihren Vater auf die Matratze schweben. Jane senkte seinen Körper herab und bedeckte ihn dann vorsichtig mit dem Tuch. Traurig lächelnd blickte sie ihn an.
Ein Klopfen am Fenster riss sie aus ihren Gedanken. Ohne nachzudenken zückte sie ihren Zauberstab und wandte sich um. Die weiße Eule kam ihr bekannt vor, doch sie dachte nicht weiter darüber nach. Jane öffnete das Fenster und nahm dem immer noch flatternden Vogel das Papierstück ab. Ohne auf eine Belohnung zu warten, flog die Eule davon.
Sie riss das Siegel auf, bevor sie überhaupt erkennen konnte, zu welchem Haus es gehörte. Die akribische Handschrift jedoch konnte sie nicht vergessen und als sie dann auch noch die Unterschrift las, stöhnte sie genervt auf. "Was will der denn jetzt?", murmelte sie.
Doch sie begann ganz oben die wenigen Zeilen zu lesen.

Liebe Miss Sharpe

Kürzliche Umstände erfordern eine Änderung im Zeitplan. Der Schulbeirat wird daher an diesem Tag, dem 01. November 1992, in Malfoy Manor tagen. Das Schloss steht momentan für keine Sitzung zur Verfügung.
Bitte erscheinen Sie pünktlich um 13.00 Uhr.

Ihr
Lucius Malfoy

Ein spöttisches Schnauben entfuhr Jane. Um ein Uhr also? Wie gut, dass es lediglich bereits halb zwei war. Das hatte er ganz sicher mit Absicht gemacht. Jane warf einen kurzen Blick auf ihren Vater. Er schlummerte tief und hatte von ihrem beinah-Wutausbruch nichts mitbekommen. Sie würde später wiederkommen.
Jetzt jedoch musste sie erst einmal diesem blonden Schnösel und seinen nach Anerkennung lechzenden Trotteln gegenübertreten. Kurz schüttelte sie sich, angewidert bei dem Gedanken an diese schleimigen Herren.
Jane griff ihren Zauberstab und, froh darüber, dass sie noch in den Schutzbannen des Hauses eingeschlossen war, apparierte sie direkt nach Malfoy Manor.


Der Hauself war sehr zuvorkommend und höflich, anderes hatte sie in diesem Haus auch nicht erwartet. Freundlich lächelte sie ihm zu, ehe sie ihm folgte. Das Anwesen war pompös, elegant und genau das Richtige für die Familie Malfoy. Kurz überlegte sie. Ja, Mister Malfoy hatte eine Frau und einen Sohn, der nach Hogwarts ging. Wenn sie sich nicht gewaltig täuschte, wusste sie auch, wie er aussah. Blond und mit arroganter Miene.
Sie betraten einen Saal, in dem sich bereits alle Mitglieder des Schulbeirats versammelt hatten. Lucius Malfoy saß vor Kopf und als die Tür aufschwang, erhob er sich. Sein höfliches Lächeln erschreckte sie ein wenig.
"Miss Sharpe. Es ist mir eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen." Er kam um den Tisch herum und griff nach ihrer Hand. Der sanfte Kuss löste trotz allen Ekels eine Gänsehaut bei ihr aus. Zum Glück trug sie eine lange Robe. "Verzeihen Sie mir bitte, dass die Eule Sie erst so kurzfristig erreichte." Er führte sie um den Tisch herum und rückte ihr den Stuhl zurecht.
Grundsätzlich schmeichelte Jane diese Behandlung, doch ihr Misstrauen war geweckt. Lucius Malfoy war nicht einfach höflich und zuvorkommend. Irgendeinen Hintergedanken hatte er dabei und er handelte ganz sicher von etwas, was ihm Vorteile verschaffen würde. Sie musste aufmerksam bleiben.
Besagter Mann, der in eine silbergraue, enge Robe gekleidet war und dessen lange Finger ein Prickeln auf ihrer Haut hinterlassen hatten, setzte sich ebenfalls und erklärte mit fester Stimme: "Die heutige Sitzung ist eröffnet. Wie Sie sicher alle wissen, ist es keineswegs üblich, dass wir uns jetzt bereits treffen. Eine Nachricht von Albus Dumbledore hat mich am Vorabend erreicht. In Hogwarts gab es allem Anschein nach einen... Vorfall. Professor Severus Snape ist hier, um uns darüber zu berichten. Professor."
Die Tür schwang auf und der Tränkemeister kam mit seinem Fledermausumhang hineingefegt. Die Anwesenden rückten unruhig auf ihren Stühlen umher, die Atmosphäre, die dieser Mann innert weniger Sekunden kreierte, war eindrücklich.


Severus war mehr genervt als erfreut gewesen, als Albus ihn zu seinem Freund Lucius schicken wollte. Die Kammer des Schreckens war geöffnet. Auch wenn Severus nichts genaues wusste, hatte er bereits seine Vermutungen. Dass er jedoch beim Schulbeirat die Situation erklären sollte, passte ihm gar nicht in seine Sonntagspläne.
Dennoch war er nun hier und hatte sich vor den Herren, die so taten, als würden sie Hogwarts anleiten, aufgestellt. Gleichgültig betrachtete er die Anwesenden, nur bei der letzten Gestalt verharrte er kurz.
Jane Sharpe. Soso. Sein Blick wanderte weiter zu Lucius. Seine Mimik sprach Bände. Severus konnte ihm nicht verübeln, dass er die äußerlichen Vorzüge dieser Frau erkannt hatte. Er selbst zwar fand, dass ihre vorlaute Zunge jegliche Vorteile übertraf, doch vielleicht war gerade das eben jenes, was Lucius so an ihr anzog.
Er hatte es zwar selbst nicht zugegeben, doch Severus sah ihm an der Nasenspitze an, dass da noch bedeutend mehr loderte als nur reines Erkennen ihrer Attraktivität. Nahm man es nämlich genau, hatte diese Frau keineswegs das, was Lucius sonst zu schätzen wusste. Weder war sie besonders groß mit langen Beinen, noch hatte sie perfekte Haare und ein makelloses Gesicht. Sie war lediglich eine Frau, die so aussah, wie sie wollte. Beeindruckend.
Gelangweilt begann Severus, die Situation in Hogwarts zu erklären und darzulegen, was der Schulleiter zu tun gedachte. Sein Blick jedoch war aufmerksam und ließ seinen Freund und die junge Aurorin nicht aus den Augen.
Zumindest bei Lucius konnte man den Eindruck gewinnen, er würde sie gleich packen und mit ihr disapparieren. Irgendwohin. Vielleicht auf den Landsitz. Und dann würde er sie nie wieder gehen lassen und die Zaubereigesellschaft auf immer und ewig hinter sich lassen.
Schaden würde es ihm keineswegs.

SarinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt