Als ich ein paar Stunden später erwachte, wunderte ich mich erstmal, wo ich war. Doch da spürte ich, dass ich auf etwas unglaublich Hartem lag, was nur meine absolut unbequeme sich selbstaufblasende Luftmatratze sein konnte. Unser Zeltausflug. Klar.
Nach dem Aufwachen war ich einfach immer komplett überfordert und hielt meinen Großvater schon auch mal für Gandalf, wenn er sich ein paar Tage nicht rasiert hatte...
Neben mir schlief Yara tief und fest, ihre langen schwarzen Locken lagen ausgebreitet auf dem Kissen, Anna pennte ebenfalls noch wie ein Stein. Und nur ich war mal wieder wach. Seufzend ließ ich mich zurück auf mein Lieblingskissen sinken und lauschte in die Dunkelheit.
Irgendetwas war seltsam. Ich konnte jedoch nicht sagen, was es war, ich hatte einfach ein komisches Gefühl. Nachdem ich eine Weile überlegt hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Diese seltsame, ungewohnte Ruhe. Keine Autos, die selbst jetzt, tief in der Nacht, über die nahe Autobahn rasten, keine Güterzüge, die pfeifend in den Bahnhof einfuhren. Keine feiernden Jugendlichen, die es sich im Park mit ein paar Flaschen Bier bequem gemacht hatten.
Dafür krähte jetzt ein Hahn. Ein Hahn? Ernsthaft? Gab es das in unserer Stadt mit fast 80000 Einwohnern überhaupt? Gut, wir befanden uns in der Schrebergartensiedlung, aber ich hatte nie mitbekommen, dass einer der Besitzer Hühner hielt... War das laut dem Bundeskleingartengesetz nicht sogar verboten?
Stimmt, das hatten wir im letzten Jahr in Französisch durchgesprochen...Gähnend griff ich nach meinem Handy und warf einen flüchtigen Blick darauf. „Kein Netz". Wirklich jetzt? Hier, am Rande einer ziemlich großen Stadt? Okay, selbst Albanien hatte ein besseres Mobilfunknetz als die Bundesrepublik Deutschland, aber trotzdem. In dieser Gegend hatte ich noch nie Probleme mit dem Empfang gehabt, es gab sogar teilweise freies WLAN. Irgendwas stimmt hier nicht, schoss es mir wieder durch den Kopf. Aber was? Als ich mein Handy noch einmal genauer betrachtete, fiel mir auch auf, was. Mir stockte der Atem.
Die Uhrzeit. Es war 18 Uhr 27. Wir konnten doch nicht fast 24 Stunden durchgeschlafen haben, oder? Yara und Anna würden das vielleicht schaffen, aber ich wachte spätestens nach zehn Stunden auf und überhaupt wären wir doch schon längst erstickt in unserem kleinen Zelt. Das musste ein Traum sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Ein sehr realistischer Traum zwar, aber egal. Zum Test schlug ich mir die Hand gegen die Stirn und stöhnte auf, das hatte echt wehgetan. Also doch kein Traum?
„Wieso schlägst du dich selber?", murmelte Yara in diesem Moment schlaftrunken und blickte mich verwirrt an. Ich flüsterte: „Ich wollte schauen ob ich träume oder nicht. Laut meinem Handy ist gerade mal halb sieben, also abends. Das kann doch nicht sein, oder?"
Meine Freundin gähnte: „Ach, du hast dich sicher getäuscht, passiert mitten in der Nacht ja öfters. Weißt du noch im Skikurs, als du mich nach dem Aufwachen für unsere Sportlehrerin gehalten hast und mich mit „Frau Meyer, ich schwöre, ich mache gleich die 30 Liegestützen" begrüßt hast?" An diesen Moment konnte ich mich natürlich noch blendend zurückerinnern, schließlich hatten wir uns den Rest des Schullandheims köstlich darüber amüsiert... aber trotzdem. Die Stille und den mangelnden Empfang hatte ich mir sicher nicht eingebildet. Als ich Yara darüber berichtete, lachte sie nur:
„Jetzt weiß ich, was los ist. Wir haben ne Zeitreise in die Vergangenheit gemacht und sitzen gerade im 16. Jahrhundert."
Ich ließ mich davon jedoch nicht abbringen und meinte leicht genervt: „Lach ruhig, ich geh mal nachschauen, was los ist!" Mit diesen Worten erhob ich mich und kroch zum Eingang des Zeltes und öffnete den Reisverschluss. „Pass auf, dass du nicht als Hexe auf dem Scheiterhaufen endest!", spottete meine Freundin noch. Als ich schließlich vor dem Zelt stand, verschlug es mir den Atem.
Das hier war nicht der Schrebergarten. Definitiv nicht. Die Feuerstelle war weg. Das Gartenhaus ebenfalls. Die Gärten der Nachbarn waren auch nicht mehr vorhanden. Stattdessen stand unser Zelt einsam auf einer riesigen, herrlich grünen Wiese. Das musste ein Traum sein, das war doch unmöglich.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?", ertönte die immer noch spöttische Stimme von Yara aus dem Zelt,
„Steht da draußen Martin Luther oder König Ludwig oder wie der hieß, auf den du in der siebten Klasse einen Crush hattest? Du weißt schon, der mit den tollen Schlössern, der am Ende im See ersoffen ist." Normalerweise wäre ich auf die Sticheleien meiner Freundin eingegangen und hätte König Ludwig verteidigt – seine Schlösser waren der Wahnsinn und ja, ich gestehe es, in jungen Jahren fand ich ihn bis heute echt schnuckelig. Aber dafür hatte ich in diesem Moment keine Zeit.„Schaut euch das an!", rief ich, meine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Wir kommen ja schon", stöhnte Yara und kroch, mit einer verschlafenen Anna im Schlepptau, aus dem Zelt. „Hä?", machte diese, „Was ist denn hier passiert?" Vor uns erstreckte sich ein sanftes Tal in den verschiedensten Grüntönen, ein Fluss schlängelte sich hindurch und in der Ferne konnte man einige Berge erkennen.
„Hier sieht es aus wie bei meiner Oma in Oberbayern", stellte Yara stirnrunzelnd fest, doch da unterbrach Anna sie: „Schaut euch mal die Häuser da hinten an!" Wir drehten uns beide um und erstarrten. Es waren keine Häuser so wie bei uns, es waren mehr... Höhlen, die in den sanften Hügeln lagen und man durch eine kreisrunde Tür betreten konnte. „Sind wir im Neuseeland?", fragte ich verwundert, „Wie kann das sein?"
„Nein, wir sind im Auenland, das sieht man doch!", rief Anna lachend, „Und gleich kommt Bilbo um die Ecke und..." „Das ist unmöglich", unterbrach Yara sie, „hier sieht es vielleicht aus wie im Auenland, aber das kann doch gar nicht sein."
„Was, wenn doch?", flüsterte ich und mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals, „Wir haben doch zahlreiche Fanfictions gelesen, in denen genau das passiert. Die Protagonisten landen wie durch Zufall in Mittelerde und treffen Kili, Fili, Bilbo und alle anderen. Was, wenn es wirklich wahr ist?" „Quatsch, das kann nicht sein", winkte Yara ab, doch so überzeugt wie am Anfang wirkte sie nun doch nicht mehr. Die höhlenartigen Häuser, die ganze Landschaft und der kleine Mann mit den riesigen haarigen Füßen, der eben den Weg hinaufkam und unser quietschgrünes Familienzelt von Decathlon misstrauisch beäugte, all das war einfach zu irreal.
Ich sah an mir herunter. Fuck. Ich trug noch immer meine hellblaue Schlafanzughose mit den weißen Wölkchen darauf. Toll, einmal nach Mittelerde und ich war nicht mal halbwegs gestylt. Auf meinem Schlafanzugoberteil prangte in fetten Lettern „Nazis raus". Das Produkt unserer Klassenfahrt ins Kloster in der neunten Klasse, in der meine Mitbewohnerinnen auf einer Mischung aus Energy und Vitamintabletten gewesen waren und meinen Schlafanzug unbedingt mit einem politischen Slogan aufpeppen wollten.
Naja, immerhin kam ich mit einer guten Message ins Auenland, auch wenn wohl kein Hobbit wusste, was ein Nazi war „Mir egal, was ihr macht!", rief Anna, „Ich geh jetzt Bilbo besuchen, ich hab Hunger. Er hat sicher was zu essen für uns!"
Sie wollte gerade losrennen, um ihren Lieblingshobbit zu besuchen, fiel Yara noch etwas ein. „Ey, Anna, siehst du überhaupt richtig? Nicht, dass du noch gegen die nächste Hobbithöhle krachst!" Das war tatsächlich ein guter Einwand. Anna trug gerade keine Brille, und damit war sie so blind wie ein Maulwurf.
„Fuck", stieß sie, blinzelte ein paar Mal und flüsterte dann: „Leute! Ich sehe gerade gestochen scharf! Ich fühl mich wie Legolas mit seinen Elbenaugen!" Zur Kontrolle blickte sie sich ein wenig im Dorf um. „Selbst den See sehe ich perfekt!", jubelte sie, „Der Gott der Fangirls hat mich von meinem Maulwurf-Dasein erlöst!"
Mein Herz machte einen Sprung. Ich freute mich für Anna, klar. Aber... Der liebe Gott hatte mich leider mit einer Autoimmunerkrankung gesegnet. Ähnlich wie Annas Beinahe-Blindheit hatte mich das schon oft eingeschränkt. Meine Freundin war nun geheilt. Konnte das bedeuten, dass auch meine Krankheit verschwunden war? Ich hatte keine Zeit mehr, länger darüber nachzudenken, denn Anna war bereits losgestürmt.
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Im Pyjama durch Mittelerde
DiversosUm ihren bestandenen Schulabschluss zu feiern, zelten die drei Freundinnen Charlie, Anna und Yara in einem Schrebergarten am Rand ihrer Heimatstadt. Am nächsten Tag wachen die Mädchen jedoch nirgendwo anders auf als im Auenland. Ausgehungert und ung...