„Kann das nicht bis später warten?", brüllte der Zwerg zurück, „Wir haben gerade ein ernstes Problem. Die Elben die Schleuse geschlossen, wir sitzen in der Falle!" Oh Gott, gleich war es so weit. Er würde an Land springen, das Tor in die Freiheit öffnen und von einem Orkpfeil durchbohrt werden. Natürlich musste er mich für absolut bescheuert halten, wenn ich hier und jetzt irgendetwas mit ihm bereden wollte. Aber es ging schließlich um seine Gesundheit und womöglich sein Überleben. Ich musste ihn warnen, dass er – sobald er die Schleuse öffnen sollte – sich vor dem heimtückischen Orkangriff in Acht nehmen würde.
Doch soweit sollte es nie kommen. Denn in diesem Moment hörte ich die Zwerge erst jubeln, dann eschrocken aufschreien, auch Yara und Anna kreischten auf. Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich bemerkte ein nervöses Kribbeln im Bauch. Was war hier los? Ich spürte, wie unser Fass erneut beschleunigte, es fühlte sich an, als wären wir in irgendeinen Sog geraten. Hieß das etwa, wir bewegten uns gerade auf den Wasserfall zu? Aber das Tor... Ich ahnte schreckliches.
„Kili, was ist los? Ist etwas passiert?", fragte ich panisch, doch der Zwerg antwortete nicht. Er blickte nur starr an einen Punkt, den ich von meiner Position aus natürlich nicht sehen konnte.
Dann brüllte er voller Furcht: „FILI!"
„Festhalten!", ertönte nun Thorins Ruf und ich klammerte mich sofort am Rand des Fasses fest. In meinem Kopf drehte sich alles, dennoch war ich mir sicher zu wissen, was gerade passiert war. Wir rasten offensichtlich auf den Wasserfall zu, das heißt, jemand musste das Tor geöffnet haben. Dieser jemand war offensichtlich Fili gewesen. Und wie es aussah, hätte ich mir eine Warnung an Kili sparen können. Denn warum auch immer war nicht er, sondern sein Bruder an Land gegangen, um den Hebel zu betätigen. Und nun steckte ein vergifteter Pfeil in seinem Bein.
„Kili, halt dich fest!", vernahm ich nun Dwalins Brüllen, und endlich löste sich der andere aus seiner Schockstarre und hielt sich ebenfalls am Fass fest.
Dann krachten wir zum zweiten Mal an diesem Tag in die Tiefe. Wieder schluckte ich ein paar Liter Wasser, und danach ging es auch wieder weiter mit einer wilden Flussfahrt. Anfangs wurden wir noch von Orks beschossen, doch nach einer Weile schienen wir sie endlich abgehängt zu haben. Auch das Wasser wurde ruhige, der Fluss war nun breiter, und wir mussten nun sogar paddeln, um vorwärtszukommen. Doch ich konnte die Kanutour nicht genießen. Denn Kili hatte meine Befürchtungen mit zitternder Stimme bestätigt. Fili war von einem Pfeil getroffen worden und schwer verletzt.
„Alle zum Ufer!", befahl nun Thorin.
Dort angekommen, halfen wir uns gegenseitig aus den Fässern, wobei wir besonders auf Fili achteten. Der arme war kreidebleich und sank am Ufer vor Schmerzen zusammen.
„Fili", jammerte Yara, die leichenblass war.
„Es geht mir gut. Es ist nichts!", behauptete dieser und zog den Rest des Pfeiles heraus, der noch in der Wunde steckte. Das war ja wohl die größte Lüge unseres gesamten bisherigen Abenteuers.
Der Meinung war auch Anna, denn sie rief empört: „Sag mal spinnst du? Es ist nichts? Du wurdest von einem Orkpfeil getroffen, das muss sofort ärztlich versorgt werden!"
Doch auch Thorin hielt offensichtlich nichts von medizinischer Erstversorgung. Er meinte nur kalt: „Steh auf!"
Ich spürte eine Gänsehaut. Jetzt kam der Thorin, der mir immer Angst gemacht hatte. Hätte der Thorin, den wir vor einiger Zeit im Auenland kennengelernt hatten, seinem von einem Orkpfeil durchbohrten Neffen, so kalt befohlen, aufzustehen? Ich bezweifelte das ehrlich. Klar, er war keine Person, die mit Liebesbekundungen um sich warf, aber dieses Verhalten gerade war einfach nur verantwortungslos. Man musste nicht unbedingt Fan des alten Thorins sein, aber eines war klar: er fühlte sich verantwortlich für sein Gefolge, erst recht für seine beiden jungen Neffen.
Kili hockte inzwischen neben seinem Bruder und rief aufgelöst: „Fili ist verwundet. Sein Bein muss verbunden werden."
Aber auch das erweichte den König nicht. „Eine Orkmeute folgt uns. Wir müssen weiter", sagte er nicht weniger kalt als vorher.
Doch nun war es Yara, die genug hatte. „Und?", fauchte sie, „Wir müssen ohnehin erst noch ein Möglichkeit finden den See zu überqueren! Etwas zum Überqueren haben wir nicht, herumlaufen geht auch nicht, dort bringen uns die Orks zur Strecke. Schwimmen könnte vielleicht Charlie, die ist im SC... äh, Gondor bei den Leistungsschwimmern. Aber wir anderen schaffen das niemals! Deshalb schlage ich vor, ihr überlegt euch, wie wir den Berg erreichen, und solange kümmere ich mich um Filis Bein. Wie du schon gemerkt hast, Thorin, meine Erste-Hilfe-Skills können sich sehen lassen!"
Ich zuckte zusammen und sah, dass es auch anderen so ging. Yara war außer sich, ihr Crush war gerade eben lebensbedrohlich verletzt worden. Aber würde das genügen, um Thorin zu erweichen?
Er blickte sie kritisch an, aber wahrscheinlich wusste er insgeheim, dass sie recht hatte.
„Verbindet sein Bein, schnell! Ihr habt zwei Minuten", sagte er ruhig.
„Das reicht für Desinfizieren und einen sterilen Verband", murmelte Yara und kramte auch schon das Erste-Hilfe-Set aus ihrem Rucksack.
Ich öffnete ebenfalls meinen Rucksack, um zu schauen, ob ich noch ein Stück Schokolade für Fili hatte, als Nervennahrung. Doch als ich gerade dabei war, mein Hauptfach zu durchwühlen, fiel mein Blick auf einen Mann, der sich leise genähert haben musste. Er trug einen Fellmantel und richtete seinen Bogen auf uns.
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Im Pyjama durch Mittelerde
DiversosUm ihren bestandenen Schulabschluss zu feiern, zelten die drei Freundinnen Charlie, Anna und Yara in einem Schrebergarten am Rand ihrer Heimatstadt. Am nächsten Tag wachen die Mädchen jedoch nirgendwo anders auf als im Auenland. Ausgehungert und ung...