Kapitel 4

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Kapitel 4

Am nächsten Tag wartete er vor dem Kaffeewagen auf Henry. Dabei fühlte er sich ungewohnt nervös. Herrgott, er war der Sohn des Paten von New York, er war eigentlich nie zappelig. Aber jetzt wäre er am liebsten herumgewandert um seine nervöse Energie loszuwerden. Toni ertappte sich dabei, wie er die Fenster des Gebäudes auf der anderen Straßenseite zählte und sah angestrengt weg. Wenn er nervös war zeigten sich bei ihm leichte Züge einer Zwangsneurose. Dann zählte er Dinge oder wiederholte er bestimmte Gesten und Handlungen immer wieder. Dabei hatte er ganz abstruse Gedanken, wie zum Beispiel, dass etwas Schlimmes passierte, wenn er sich verzählte. Er hatte damit angefangen, nachdem er aus Europa zurückgekehrt war und er hasste es. Er wusste, dass es nicht logisch war, was er tat. Immer, wenn er sich dabei ertappte, zwang er sich, sofort damit aufzuhören. Es klappte nicht immer, aber oft genug.

Der Himmel war bewölkt, doch noch hatte es nicht angefangen zu Regnen. Toni stellte seinen Kragen gegen den Wind hoch und las als Ablenkung seine E-Mails, während er wartete. Die meisten E-Mails betrafen das Corleone; Lieferungen, die Anfrage eines noch unbekannten DJs der gerne auflegen wollte, eine E-Mail seines Buchhalters, dass er Papiere unterschreiben sollte. Toni wollte seine E-Mails gerade schließen, als eine E-Mail seines Vaters eintraf. Toni hätte das Telefon fast fallenlassen. So sehr sich sein Vater gegen die moderne Technik bei ihren Geschäftsfeldern sträubte, gegen E-Mails und verschlüsselte Nachrichten hatte er dann doch nichts einzuwenden, sofern der Inhalt unverfänglich war.

Anthony,

wir haben uns schon länger nicht gesehen. Komm morgen vorbei, dann trinken wir einen Kaffee und du kannst mir erzählen, wie die Geschäfte laufen. Auch ich habe Neuigkeiten.

Bis morgen, 15 Uhr.

Vincenzo"

Für einen Außenstehenden war der Inhalt der E-Mail harmlos. Eine kurze Nachricht von einem Vater an seinen Sohn. Aber Toni wusste es besser. Welcher liebende Vater unterschrieb eine E-Mail an seinen einzigen Sohn schon mit seinem Vornamen? Es war der Befehl des Don, morgen um 15 Uhr in seiner Wohnung zu erscheinen, damit sie über die Geschäfte reden konnten. Für einen Moment überlegte sich Toni, einfach abzusagen, aber er wusste, dass er das nicht tun konnte. Niemand widersetzte sich einem direkten Befehl seines Vaters. Also antwortete er kurz und knapp, dass er morgen um 15 Uhr zum Kaffee vorbeikommen würde.

Seine gute Stimmung war verflogen. Was mochte sein Vater von ihm wollen? Das Corleone lief gut, dafür hatte ihn der Don sicherlich nicht einbestellt. Und was hatte es mit dieser Neuigkeit auf sich, die sein Vater erwähnt hatte? Toni sah die belebte Straße hinab, doch er sah die vielen Leute, die an ihm vorbeihasteten, gar nicht. Bei ihrem letzten Gespräch hatte sein Vater nichts erwähnt und auch sein Consigliere, mit dem Toni mehr Kontakt hatte, hatte nichts angekündigt. Toni fühlte sich wieder wie 16 auf der High School, als er genau wusste, dass er seine Prüfungen verhauen hatte, und angstvoll auf die Noten wartete. Er hatte gewusst, dass er miserabel abgeschnitten hatte und dass sein Vater unglaublich wütend werden würde. Auf der einen Seite wollte er die Noten gar nicht wissen und auf der anderen Seite hatte er die Notenvergabe nicht abwarten können, damit es endlich vorbei war.

Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkte, dass Henry an seine Seite trat.

„Penny für deine Gedanken."

Erschrocken sah Toni auf. Das war schon das zweite Mal, dass Henry ihn überrascht hatte. Henry trug seinen Rucksack auf dem Rücken, seine langen Beine steckten in Jeans und er trug eine hellbraune Lederjacke, die ihm in Tonis Augen einfach umwerfend gut stand. „Henry, hallo." Verlegen, dass er so abgelenkt gewesen war, verstaute er sein Handy in seiner Jackentasche und wandte sich Henry zu. „Fertig mit den Vorlesungen für heute?"

Corleone - Anthony & HenryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt