Kapitel 1

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Yve Winter:

Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee steigt mir sofort in die Nase. Einer meiner Lieblingsgerüche am frühen Morgen, denn ohne Kaffee geht bei mir gar nichts. Ich schließe kurz die Augen und genieße den feinwürzigen, warmen Geruch, bis mir wieder einfällt, dass gerade wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist, über eine Tasse Kaffe im kuscheligen Bett nachzudenken.
Ich öffne die Augen schnell wieder und blicke auf den weißen Empfangstresen, der mit allerlei grünen Zimmerpflanzen, in den verschiedensten Formen und Größen, bestückt ist. Die hellen Wände und Türen, mit weiß abgesetzten Verzierungen, lassen den Raum noch freundlicher wirken. Vom tristen, herbstlichen Regenwetter ist hier drin nichts zu spüren. Durch die immergrünen Pflanzen und die hellen vielen Lampen an der Decke wirkt es fast so wie ein wunderschöner Sommertag. Alleine meine durchnässte Gestalt erinnert noch an die eigentliche Wetterlage.

Hinter dem Tresen erhebt sich ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, der mich freundlich anlächelt und fragt, ob er mir den Mantel abnehmen darf. Mit einem schnellen Nicken beantworte ich seine Frage und bedanke mich als er mir, den vom Regen sehr schweren Mantel, abnimmt und auf einen der Kleiderbügel hängt.
Mit meinen Händen versuche ich noch notdürftig meinen Blazer, der durch die Fahrt ganz schön gelitten hat, etwas glatt zu streichen. Ich nehme meine braune Ledertasche, die ich kurz zuvor auf den Boden gestellt hatte, um den Mantel auszuziehen, wieder in die Hand.
Da zeigt mir der nette Mitarbeiter vom Empfang auch schon den Weg in ein Büro, in dem ich kurz Platz nehmen und warten soll. „Es wird in spätestens 5 Minuten, wenn die andere Bewerberin mit ihrem Vorstellungsgespräch durch ist, jemand zu Ihnen kommen. Viel Glück für ihr Gespräch."
Er schließt die Tür hinter sich und ich bin allein in dem großen Raum.

Auch dieses Zimmer ist mit einigen Topfpflanzen bestückt. Eine Drachenpalme, die in einem grauen, großen Übertopf aus Stein steht, ragt sogar fast bis zur bestuckten Zimmerdecke hoch. Eine Sammlung alter Wahlplakate der Partei schmücken die sonst kahlen, weißen Wände. Da ich noch kurz Zeit habe, schaue ich mir die Bilder etwas genauer an. Vor einem Plakat verweile ich letztendlich etwas länger. Es zeigt die Parteivorsitzende und fürs Kanzleramt kandidierende Annalena Baerbock. Durch den Blick auf das Plakat und die Gewissheit, dass ich gleich mit dieser Frau das Vorstellungsgespräch führen werde, steigt meine Aufregung plötzlich ins Unermessliche. Auch wenn sie auf Bildern und in Interviews freundlich und offen wirkt, habe ich großen Respekt vor ihrer starken Persönlichkeit und ihrer Wortgewandtheit. Ich habe Respekt davor, dass ich ihr im direkten Gespräch nicht standhalten kann, auch wenn ich eigentlich weiß was ich tue und dass ich perfekt für diesen Job geeignet bin.

Da höre ich auch schon wie hinter mir die Tür aufgeht. Mein Herz fängt direkt an zu rasen. Ich spüre, wie mich jemand von hinten ansieht und frage mich ob sie es ist. Ich merke wie sich kalter Schweiß zwischen meinen Fingern bildet. In dem Moment wo ich mich umdrehe, versuche ich die feuchten Hände noch etwas an meiner Hose abzuwischen. Als ich nach einem blinzeln die Augen wieder öffne, schaue ich direkt in ihre tiefblauen Augen. Die unermessliche Aufregen von eben verdoppelt sich gefühlt noch einmal und in mir bebt ein Gefühlschaos aus Angst, Überforderung, aber auch Freude, über die mögliche Chance hier arbeiten zu dürfen.
In den gefühlt ewig dauernden Sekunden, in denen ich vom Wahlplakat bis zur realen Person gegenüber in der Tür laufe, habe ich genug Zeit um sie nochmal genau anzusehen. Alles läuft wie in Zeitlupe vor mir ab.
Frau Baerbock ist gewohnt stylish und zugleich chic gekleidet. Sie trägt eine eng anliegende, cognacfarbene Hose und eine dazu passende helle Seidenbluse mit einem V-Ausschnitt. Ihre stufig geschnittene Frisur fällt leicht auf ihre Schultern.

Ihren Blick kann ich zugegebenermaßen nicht wirklich einordnen. Einerseits wirkt ihr Lächeln warm und herzlich, aber mich lässt das Gefühl nicht los da noch etwas anderes zu spüren.
Zur Begrüßung reichen wir uns schließlich die Hände und sie führt mich mit einer einladenden Geste in das Zimmer in dem ein großer, runder Tisch steht. An diesem sitzt auch schon ihr bekannter Kollege Robert Habeck, der aber direkt aufsteht um mich auch zu begrüßen.
Mir fällt direkt das große Fenster hinter ihm auf. Dieses erinnert mich nämlich schmerzlich daran, dass es draußen aus Eimern schüttet und meine rostbraunen Haare ganz sicher nicht mehr leicht auf meine Schultern fallen und jede Locke, die ich mir am frühen Morgen noch mühselig in die Haare gedreht habe, verschwunden ist.

Ich nehme auf einem der grauen Polsterstühle, die gegenüber von Beiden um den runden Tisch angeordnet sind, platz. Dabei werfe ich einen Blick in meine Tasche und stelle fest, dass zu all meinem Glück, auch diese und deren Inhalt nicht von dem Regen verschont geblieben sind. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und stelle sie neben mich, auf den dunkelbraunen Parkettboden.


Annalena Baerbock:

Ich lasse meinen Blick kurz durch den Raum schweifen, bevor ich mich dazu zwinge ein paar Mal tief durchzuatmen. Im Stillen sage ich zu mir selbst „Jetzt komm Mal ein bisschen runter Annalena!", während ich mich versuche auf die Situation zu fokussieren. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich dazu neige in gewissen Stresssituationen zu schnell zu reden und zusätzlichen Stress kann ich gerade wirklich nicht gebrauchen. Eigentlich sind wir mitten in den Sondierungs-, Koalitionsverhandlungen und dabei eine neue Regierung zu bilden. Doch jetzt muss ich mich in dem ganzen Chaos auch noch um eine neue Pressesprecherin bemühen, weil meine langjährige Mitarbeiterin unerwartet gekündigt hat. Ich versuche natürlich stets freundlich zu bleiben, aber die Bewerber*innen machten es mir die letzten Tage nicht leicht.

Während ich mich und meine Gedanken noch etwas sammle, geht Robert schonmal die ersten Fragen mit der Bewerberin durch. Ein Glück kennt er mich schon etwas länger und weiß mich genau einzuschätzen. Dadurch habe ich etwas Zeit mich wieder voll und ganz zu fokussieren und wie sonst eigentlich für mich üblich, zu 100% da zu sein.

Ich bemerke natürlich sofort, dass Frau Winter nervös an ihrem goldenen Armreif rumspielt, wenn sich unsere Blicke treffen. Wenn sie Robert hingegen ansieht wirkt sie sehr viel entspannter. Strahle ich meinen Stress wirklich so sehr aus, dass sich das schon auf sie überträgt?

Ich greife nach der Bewerbungsmappe und schlage den Lebenslauf der 27 jährigen Bewerberin auf. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr warum wir eine Person mit so wenig Berufserfahrung überhaupt eingeladen haben. Für solche Fehler haben wir nun wirklich keine Zeit. Ich merke wie meine Laune sich schlagartig verschlechtert und dass ich meinen eher genervten Blick kaum noch verbergen kann. Das mag auch daran liegen, dass mich schon die Bewerberin davor kaum überzeugen konnte und generell scheint es nur noch wenig gute, zuverlässige Pressesprecher*innen zu geben.

Erschreckenderweise ertappe ich mich gerade dabei, dieser Person, der ich überhaupt nicht zuhöre, gar keine Chance zu geben, mich von sich zu überzeugen. Das ist sonst gar nicht meine Art. Ich atme noch ein letztes Mal tief durch, bevor ich auch endlich das Wort übernehme und mich auf das hier und jetzt konzentriere.

Ich stelle der Bewerberin einige für mich wichtige Fragen und bin durchaus überrascht wie souverän diese von ihr beantwortet werden. Vielleicht habe ich doch einfach zu voreilig geurteilt. Aber die Fußstapfen sind einfach riesig und der Job erfordert sehr viel Stärke, Selbstbewusstsein und in Krisensituationen die Ruhe zu bewahren. Deshalb bin ich auch einfach sehr anspruchsvoll was das angeht.

Nach dem Gespräch, schaue ich in Roberts begeistertes Gesicht. Er fasst mir im gleichen Moment beruhigend auf die Schulter: „Das hast du gut gemacht. Jetzt komm erstmal ein bisschen runter. Soll ich dir auch ein Stück Kuchen aus der Küche mitbringen?" Er weiß wirklich immer was mir in solchen Situationen hilft. Ich schließe für eine Sekunde erleichtert die Augen und nicke ihm zu. „Zucker, ich brauche jetzt erstmal ganz viel Zucker!"

Falling slowly Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt