Kapitel 10

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Yve Winter:

Es ist bereits 12 Uhr Mittags und ich sitze noch immer in meinem kuscheligen braunen Pyjama in meinem Bett. Vor mir auf meinem Schoß steht mein Tablet und auf meinem Nachttisch bereits die zweite Tasse heißer Kaffee. An meinen freien Tag bin ich gerne etwas länger im Bett. Vor allem an solch trüben Tagen wie heute.
Auf meinem Tablet läuft gerade die letzte Folge meiner Lieblingsserie und wie immer frage ich mich beim Staffelfinale einer spannenden Serie: „Was soll ich nur danach mit meinem Leben anfangen." Wenn eine Serie wirklich gut ist und ich mich in die Charaktere voll und ganz reinversetzten kann, fällt es mir umso schwerer, wieder ein Jahr auf eine neue Staffel zu warten. Das ist wie, als müsste ich meine Gefühle für ein Jahr ausknipsen, um sie dann in der neuen Staffel wieder rauszukramen.
Und wie das so üblich ist, endet die Serie natürlich mit einem riesigen Cliffhanger. Mit offenem Mund sitze ich vor dem Abspann und erst nachdem Netflix irgendeine andere Serie startet, realisiere ich, dass das wirklich das Ende war.
Fassungslos schließe ich die App und öffne YouTube: „Auf den Schreck brauche ich erstmal leichte Kost." sage ich leise vor mir hin.
Auf meinem Bildschirm erscheint das rote Logo der Seite, bis kurz darauf meine Startseite mit allerlei Videovorschlägen lädt.

Ich muss nicht weit scrollen, da zieht eine Videoüberschrift meine Aufmerksamkeit auf sich. „Annalena Baerbock hast du deinen Lebenslauf cooler gemacht?" steht unter einem Vorschaubild des Videos geschrieben. Natürlich hatte ich von den ganzen Vorwürfen während des Wahlkampfes gehört, aber so richtig mit den YouTube Videos habe ich mich noch nicht befasst. Mit meinem Zeigefinger klicke ich schließlich auf das Video und schaue es mir an.
Ich kann mich zunächst gar nicht auf den Inhalt konzentrieren, als Annalena gefilmt wird, denn ich frage mich einfach immer wieder, ob ich wirklich bei dieser Person arbeite und mir noch gestern ein Taxi mit ihr geteilt habe.
Ich ertappe mich, wie ich sinnig meinen Bildschirm angrinse, wenn sie zu sehen ist. Ihr Lachen nimmt sogar über das Video den ganzen Raum ein.

Die Zeit vergeht plötzlich wie im Flug und ich schaue ein Video nach dem Anderen an. Einige Bundestagsreden der Powerfrau sind wirklich beeindruckend. Sie kämpft wirklich wie eine Löwin für das was ihr wichtig ist und zeigt den Anzugträgern regelrecht wo es lang geht.
Nach etlichen Videos stoße ich auf ein Interview, was ich gespannt verfolge. Doch es dauert nicht lang, da steigt Wut in mir auf. Die 40-Jährige wird Dinge gefragt und wenn sie diese ausführlich beantworten will, wird ihr von den Männern regelrecht ins Wort gefallen. Sie schafft es kaum einen Satz zu sagen, da kommen schon wieder freche Kommentare von ihren Interviewpartnern. Man merkt ihr auch richtig an, wie genervt sie nach kurzer Zeit davon wird. Und trotzdem bleibt sie sachlich und ruhig, was man von den Männern dort nicht behaupten kann. Diese werfen schnell mit Beleidigungen um sich.
Ich starre fasziniert auf den Bildschirm und kann nicht glauben was diese Frau alles ertragen muss. Schnell finde ich noch weitere solcher Videos, doch ich schaffe es gar nicht mehr hinzusehen und zuzuhören. Ich verspüre einfach nur das tiefe Bedürfnis ihr zu sagen, was für eine tolle Frau sie ist. Aber ich kann sie doch nicht einfach anrufen.
Ich schaue auf mein Handy um nach der Uhrzeit zu sehen und öffne im gleichen Moment Annalena's Terminkalender.
„17 Uhr Außentermin - RTL Interview" steht dort als nächstes geschrieben. Ich werfe erneut ein Blick auf die Uhr. Es ist noch eine Viertelstunde Zeit bis zum Termin. Ohne drüber nachzudenken öffne ich meine Kontakte und drücke auf ihren Namen. Mein Finger tanzt wild über dem Anrufbutton hin und her. „Stop Yve! Jetzt sammelst du dich erstmal und überlegst was du sagen willst!" sage ich leise zu mir selbst. Doch im gleichen Moment höre ich dumpf aus dem kleinen Lautsprecher des Handys: „Annalena Baerbock, hallo? Yve bist du das?"
Mit weit aufgerissenen Augen führe ich das Handy an mein Ohr stottere: „Ehm ja, ich bin es, also ..." Ich bekomme kaum einen geraden Satz heraus.
„Ich habe gleich einen Termin bei RTL. Gibt es was wichtiges?" sagt sie etwas gestresst.
„Nun ja. Ich wollte eigentlich nur sagen.. Also. Ich freue mich wirklich sie, ehm dich, als meine Chefin zu haben. Du bist eine starke Persönlichkeit und eine riesige Inspiration für mich. Das wollte ich einfach nochmal loswerden. Entschuldige, dass ich einfach so anrufe und störe." ich spüre wie rot meine Wangen geworden sind und die Scham in mir aufsteigt. Was muss sie nur von mir denken.
Es herrscht kurz Stille am Handy, bis sie schließlich antwortet: „Yve, das tut wirklich gut zu hören. Du weißt immer wieder, wie du einen stressigen Tag zum positiven wendest. Ich freue mich auch wirklich sehr, dass du nun in unserem Team bist. Ich muss jetzt leider weitermachen, aber vielen Dank für den Anruf. Genieße deinen freien Tag."
Das laute Piepen, des beendeten Anrufs, tönt laut in mein rechtes Ohr, doch ich bin noch immer erstarrt. Einerseits vor lauter Scham, aber auch vor Glückseligkeit über ihre Worte.
Den Rest des Tages schwebe ich gefühlt durch meine Wohnung und mein Grinsen reicht von einem Ohr bis zum anderen.


Annalena Baerbock:

Nachdem ich aufgelegt habe, schaue ich noch einen kurzen Moment auf das Kontaktfoto von Yve und beginne zu lächeln. Das habe ich gerade wirklich gebraucht. Genau wie vor kurzem, als sie mit Wein in meinem Büro stand. Es scheint als wüsste sie genau wann es mir schlecht geht.
Ich lasse mein Handy in meine dunkelblaue Tasche sinken und stelle sie neben mich auf den Garderobenboden. Ich schnappe mir noch ein letztes Mal den Puderpinsel und fahre mir damit über Stirn und Nase. Da öffnet sich auch schon die Tür, ein Mann tritt ein und sagt: „Frau Baerbock, in 5 Minuten geht es los. Folgen sie mir bitte ins Studio."
Nachdem ich aufgestanden bin richte ich nochmal meinen blauen Blazer und folge dem großen Mann über den langen Flur ins Studio. Dort wartet bereits die Moderatorin Frauke Ludowig auf mich, um mich über die aktuelle Regierungsbildung zu befragen.
Eigentlich sind es immer die gleichen Fragen und Antworten. Darin bin ich in den letzten Wochen schon sehr routiniert, denn es vergeht keine Woche in der ich nicht irgendein TV Interview geben muss.
Nur noch ein paar Sekunden dann geht es los.
Und wie ich es geahnt hatte. Die selben Fragen, die ich schon 100 Mal zuvor beantwortet habe. Aber jeder Sender will nunmal sein eigenes Interview ausstrahlen und somit lasse ich die gleichen Fragen über mich ergehen. Ich kann nicht anders, als währenddessen an ihren Anruf zu denken, so positiv überrascht bin ich noch immer davon. Ich kann auch gar nicht glauben, wie hart ich eigentlich beim Vorstellungsgespräch zu ihr war.
Umso mehr freue ich mich, schnell eine zuverlässige Mitarbeiterin gefunden zu haben.

Nach dem Interview gehe ich in meine Garderobe, schnappe meinen Mantel, den Schal und meine Tasche. Während ich mich auf den Weg zum Dienstwagen mache, schlinge ich meinen Schal um den Hals, ziehe den Mantel an und knöpfe ihn bis oben hin zu.
Jetzt muss ich noch einmal in meinem Büro vorbei und dann kann ich endlich Feierabend machen. Erleichtert atme ich tief ein und nehme die kalte, feuchte Luft in meinen Lungen auf. Ich steige ins Auto, starte den Motor und fahre durch die vielbefahrene Stadt in Richtung Büro.
Ich drehe die Musik etwas lauter und singe schief zu dem Song „Wannabe" von den Spicegirls mit. „Ein Glück kann mich hier drin keiner hören." denke ich mir und singe weiter mit.

Ich betätige den Blinker und fahre in die Parklücke vor dem großen, gelben Gebäude.
Mit einem Schlag schließe ich die Autotür und mache mich auf den Weg ins Büro. Ein paar meiner Mitarbeiter sind sogar noch da. Ich begrüße sie und gehe in mein Bürozimmer am Ende des Flurs. Ich lasse mich in meinen Bürostuhl fallen und rolle ihn etwas unter meinen Schreibtisch.
„Okay, nun nur noch meine nächsten Tage koordinieren und dann werde ich nach Hause fahren." sage ich entschlossen zu mir selbst und lege den Terminkalender vor mich auf den Tisch.

Falling slowly Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt