Kapitel 9

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Yve Winter:

Die Hände stecken tief in meiner Manteltasche und mein Gesicht ist bis zur Nase in meinem karierten Schal vergraben. Im sanften Gegenlicht der Straßenlaterne sehe ich wie der warme Atem ihre Lippen verlässt. Ihre Silhouette sieht in diesem Licht atemberaubend schön aus. Sie hat ihren Kopf leicht in den Nacken geworfen und schaut in den klaren Sternenhimmel, denn endlich hatte es aufgehört zu regnen und alle Wolken haben sich verzogen.
Das heranfahrende Taxi unterbricht den Moment der Stille abrupt, aber ich kann immer noch nicht aufhören sie anzusehen. Sie fährt sich mit beiden Händen durch ihre Haare und macht sich bereit einen Schritt auf das Taxi zuzugehen. Sie geht an die Hintertür und macht diese schwungvoll auf. „Steig ein." sagt sie rasch und zwinkert mir zu.
Ich nicke ihr grinsend zu: „Vielen Dank." und verschwinde mit einem Satz in dem parkenden, gelben Auto. Überraschenderweise geht neben mir die Tür auf. Ich dachte wirklich sie steigt auf dem Beifahrersitz ein, aber nein, sie macht es sich neben mir bequem. Nur unsere beiden Taschen trennen uns auf dem mittleren Platz voneinander.

Auf der Fahrt genießen wir Beide eine zeitlang die Ruhe und schauen aus unseren jeweiligen Fenstern. Eine gefühlte Ewigkeit traue ich mich einfach nicht den Kopf zu drehen, um zu schauen was sie tut. Ist sie vielleicht sogar eingeschlafen? Ich nehme aber kurze Zeit später schließlich doch meinen Mut zusammen und drehe den Kopf leicht, sodass ich aus dem Augenwinkel ein bisschen was erkennen kann. Ihr Kopf ist gegen die Kopflehne gelegt und es scheint wirklich so als würde sie schlafen. Ich drehe meinen Kopf ein bisschen mehr. Sie sieht einfach wunderschön aus, zumindest das was ich in der Dunkelheit der Nacht erkennen kann.
Ihre Augen sind geschlossen und ihr Bauch bewegt sich sanft auf und ab. Ihre Atmung ist ruhig. So entspannt habe ich die viel beschäftigte Frau schon lange nicht mehr gesehen.
Eine Strähne ist ihr ins Gesicht gefallen und schmiegt sich sanft an ihre Haut. Ich sitze einfach nur da und starre sie eine Weile an, bis sie ihr rechtes Auge etwas öffnet und fragt: „Weißt du wann wir da sind?" Etwas erschrocken von der plötzlich unterbrochenen Stille stottere ich leise: „Nein, ich habe schon länger nicht mehr auf die Straßenschilder geachtet. Ich bin kurz eingeschlafen." ...Und eigentlich starre ich die ganze Zeit nur dich an fahre ich gedanklich fort.

Annalena schaut aus dem Fenster und versucht das Ausfahrtsschild in der Ferne zu lesen: „Ah, da ist die Potsdamer Ausfahrt. Dann schreibe ich meinem Mann, dass ich gleich zu Hause bin."
Stimmt da war ja was. Da gab es diesen Glückspilz an ihrer Seite, der die Nächte mit ihr verbringen darf. Warum verspüre ich nur diese tiefe Eifersucht, wenn ich daran denke? Vielleicht weil es immer die Ehemänner sind, die einen Strich durch meine Gefühle machten. Das war schon früher so und es scheint sich nichts, aber auch gar nichts geändert zu haben. Warum fühle ich mich immer wieder zu solchen Frauen hingezogen?
Mit diesen Gedanken versaue ich mir grad Mal wieder gehörig die Laune, dabei will ich doch einfach nur den Moment genießen.

Annalena formuliert währenddessen eine Nachricht auf ihrem Handy und schickt diese als SMS ab. Sie ist glaube ich der einzigste Mensch, den ich kenne, der noch simst. Aber selbst das finde ich irgendwie süß und es macht sie noch spezieller.
Sie sperrt ihr Handy und ihr eben noch beleuchtetes Gesicht verschwindet wieder in der Dunkelheit. Ich spüre ihren Blick auf mir und kann nicht anders als zurückzuschauen. Unsere Blicke treffen sich und obwohl es dunkel ist, sehe ich ihre strahlenden Augen direkt neben mir glitzern. Wir schauen uns einen Moment lang einfach nur an. Irgendwas ist da in ihrem Blick, aber ich kann es partout nicht einordnen.

Das Auto bleibt wenig später in einer großen Allee stehen. Unsere Blicke lösen sich voneinander, als Annalena in ihrer Tasche nach dem Portmonee sucht. Ich sage rasch zu ihr: „Lass mal stecken, das geht auf mich und du lädst mich dann auf dem Weihnachtsmarkt einfach auf eine Tasse Glühwein ein." Sie hebt ihren Kopf und schaut mich nun wieder an: „Ausnahmsweise, aber das mit dem Glühwein merke ich mir und lege noch einen Crêpe und eine Fahrt im Riesenrad drauf. Danke dir für den schönen Abend und deine Gesellschaft." Sie beugt sich plötzlich quer über meine Tasche zu mir rüber und verwickelt mich in eine erneute, feste Umarmung. Ich atme direkt tief ein um ihren Duft in mir aufzunehmen, ihn einzuschließen, damit ich ihn später mit in meine Träume nehmen kann. Wir lösen uns voneinander und die kleine Frau verlässt das Taxi, schlägt die Tür sanft zu und läuft auf ein schönes, altes weißes Haus zu, an dessen Eingangstür schon ein großer stattlicher Mann auf sie zu warten scheint. Doch das blende ich gekonnt aus und denke nur an ihren Duft.

Wenige Minuten später hält das Taxi erneut vor meiner Tür. Ich bezahle rasch den nicht ganz billigen Taxipreis und mache mich auf den Weg in meine Wohnung. Dort angekommen schließe ich die Eingangstür, lehne mich dagegen und sacke in mir zusammen und rutsche an der Tür entlang auf den Boden. Meine Augen sind geschlossen und ich denke erneut an ihre Silhouette im Laternenlicht.


Annalena Baerbock:

Ich laufe auf die Treppenstufen meines Potsdamer Mehrfamilienhauses zu und blicke meinem Mann dabei freundlich in die Augen. „Na, dein Tag scheint aber heute gut verlaufen zu sein. War das deine neue Kollegin im Taxi?" fragt er mich und drückt mir zu Begrüßung einen Kuss auf meine warmen Lippen.
„Ja genau das war sie. Sagen wir mal so; mein Tag begann stressig und blieb es bis in den Abend auch, aber dann hatten wir Zwei noch ein paar Frauengespräche. Du weißt schon. Über was man halt so spricht." antworte ich ihm schließlich mit einem Zwinkern.
„Okay, da Frage ich besser nicht weiter nach." sagt er schnell und wir gehen gemeinsam in unsere Wohnung.

Zu dieser Uhrzeit schlafen meine Töchter schon. Um sie nicht zu wecken, gehe ich leise ins Bad und mache mich Bettfertig. Ich spritze eine letzte Ladung Wasser in mein Gesicht und greife nach dem Handtuch neben dem Waschbecken. Sanft tupfe ich mir damit über mein nasses Gesicht. Mit einem Blick in den Spiegel sage ich leise zu mir: „Annalena du siehst fertig aus!"
Oft mache ich mir Gedanken ob ich durch die ganze Arbeit, meine zwei Kinder und den Stress überhaupt noch begehrenswert bin für meinen Mann. Natürlich kommt unsere Ehe, bei den wenigen Stunden die ein Tag hat, meist viel zu kurz. Sex haben wir auch eher nur noch selten. Aber ich rede mir ein, dass das nunmal normal ist und es nicht an mir oder meinem alternden Aussehen liegt.

Mit meinen Fingern fahre ich mir über die kleinen grauen Haare, die ich zur Zeit nicht mehr färben kann, weil ich eine Allergie gegen das Färbemittel entwickelt habe. „Schluss jetzt! Du bist gut so wie du bist!"
Ich weiß natürlich woher diese Gedankengänge kommen. Als Person des öffentlichen Lebens stehst du, aber vor allem dein Aussehen, immer im Fokus. Sogar bei Politikern macht die Klatschpresse keinen Halt.
Ich sammle meine Gedanken rasch zusammen und mach mich auf den Weg ins Bett, in dem mein Mann schon fast wieder eingeschlafen ist. Ich lege mich leise daneben, um ihn nicht wieder zu wecken. Ziehe die warme Decke bis an meine Nasenspitze und schlafe direkt ein. Wenn es was ist was ich gut kann, dann ist es fester, schneller Schlaf. Die paar Stunden die ich dafür habe, müssen schließlich genutzt werden.

Gefühlt genauso schnell wie ich letzte Nacht eingeschlafen war, klingelt mein Wecker heute früh wieder. Jetzt heißt es aufstehen, denn den Snooze-Knopf fange ich erst gar nicht an zu betätigen. Wenn mein Wecker klingelt, stehe ich auf. So schwer es mir manchmal fällt. Aber da mein Mann die Kinder später zur Schule bringt, bereite ich, bevor ich mich fertig mache deren Essen vor.
Ich Taste meinen Weg also durch das dunkle Zimmer bis in den Flur, um erst dort das Licht anzumachen.
Etwas träge gehe ich die Treppen unserer Maisonetten-Wohnung hinunter in die Küche und öffne den Kühlschrank. Ich hole etwas Belag für das Pausenbrot heraus und mache den Mädchen schnell ein paar Brote. Rasch schneide ich noch ein paar regionale Äpfel auf und sortiere Alles in die grünen, glitzernden Brotdosen der Mädels.
Kurze Zeit später kommen diese angezogen und mit ihrem Papa an der Hand nach unten und fallen mir in die Arme. Ich drücke Beiden ein Kuss auf die Stirn und sage: „Habt einen schönen Tag ihr Zwei, lernt fleißig und tanzt dem Papa später nicht auf der Nase herum."
Mit einem noch sehr müden Lächeln, nehme ich meinen Mann in den Arm und küsse seine Wange. Seine Dreitagebart pikst mir dabei in meine weichen Lippen. Ich spüre wie sich mein Gesicht etwas verzieht und er schaut mich mit einen entschuldigendem Blick an.
Mit kleinen Schritten folge ich ihm bis zur Eingangstür und winke ihnen als sie aus der Ausfahrt herausfahren.

Obwohl ich leicht bekleidet bin, bleibe ich noch etwas vor der Tür stehen. Das ist eines meiner Morgenrituale. Ich stelle mich in den kalten Wind, der sanft durch meine schulterlangen Haare weht. Atme tief ein und aus und genieße die frische Luft auf meiner, mit Gänsehaut bedeckten Haut. „Jetzt bin ich bereit für meinen Tag." sage ich entschlossen zu mir selbst, gehe zurück in die Wohnung und mache mich für die Arbeit fertig.

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