Kapitel 4

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Yve Winter

Ich traue meinen Augen kaum, als ich einen flüchtigen Blick auf meine Wetterapp werfe. 18 Grad und Sonnenschein. Gefühlt das erste Mal seit Wochen soll tatsächlich wieder die Sonne scheinen! Ein goldener Herbst. Es gibt eigentlich nichts schöneres als an einem sonnigen Herbsttag durch den Park, der in warmen Gelb-, Orange- und Rottönen erstrahlt, zu spazieren und sich die Hände zusätzlich an einem Pumpkin Spice Latte zu wärmen. Aber dafür bleibt heute keine Zeit. Dieser Tag wird über meine Zukunft entscheiden und ich bin fest entschlossen diesen Tag mit Bravour zu meistern.
Gut gelaunt und laut pfeifend laufe ich ins Bad um mich fertig zu machen. Ich blicke erneut auf die Umzugskiste in der Ecke. „Dich räume ich direkt morgen aus. Heute habe ich durchaus wichtigeres zu tun!" Aber auf den einen Tag kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Schnell klatsche ich mir etwas kaltes Wasser in mein noch müdes Gesicht. Im ersten Moment sticht das eisige Wasser etwas auf meiner Haut, aber immerhin bin ich danach sehr viel wacher als vorher.
Ich nehme meine Bürste aus dem Regal, welches ich erst vor kurzem an der Wand angebracht habe. Die ersten Bohrlöcher meines Lebens. In meinen alten Wohnungen, habe ich immer vermieden etwas an der Wand anzubringen, weil ich einfach keine Lust hatte mir dafür extra eine Bohrmaschine zu kaufen.
Rasch kämme ich mir die zerzausten Haare und fange direkt danach an mich zu schminken. Ich setze die schwarzen Borsten meiner Mascara an meinem Wimpernkranz an und mache einige schwungvolle Bewegungen nach oben, bis meine Wimpern die richtige Dichte erreichen. Schnell noch etwas Make-up ins Gesicht und die Augenbrauen leicht nachziehen. Fertig für heute. Mit einem Blick auf die Uhr wird mir fast schlecht. Ich habe mir wohl etwas zu viel Zeit genommen im Bad. Ich renne schnell an meinen Kleiderschrank, an dem ein Glück schon mein vorbereitetes Outfit hängt. Ich schlüpfe zuerst in die Blaue enganliegende Jeans und springe dafür etwas auf und ab, bis ich endlich den Hosenbund über meine Hüfte gezogen bekomme. Mit spitzen Fingern versuche ich mühselig den Knopf ins Knopfloch zu drücken und greife direkt danach zu meiner einfarbig, weißen Bluse über die ich schließlich einen taillierten, blauen Blazer ziehe.

In Gedanken stehe ich letztendlich vor meiner Eingangstür „Tasche? Habe ich! Jacke? Habe ich an! Glätteisen? Habe ich heute nicht gebraucht" flüstere ich vor mich hin. Und in dem Moment, in dem ich aus der Wohnung gehen will höre ich eine Stimme im Hinterkopf, die sagt: „Denken sie diesmal am Besten an ihren Regenschirm!" Der Regenschirm! Vertraue niemals der Wetterapp, vertraue lieber auf die erfolgreiche Karrierefrau, bei der du heute arbeiten wirst!
Da mein Lieblingsschirm wahrscheinlich noch in irgendeiner Bahn in Berlin rumfährt muss ich den alten, etwas klapprigen Schirm von Oma nehmen. Der passt wenigstens noch in meine blaue, geräumige Handtasche mit rein. So kann ich ihn auf keinen Fall vergessen und die Bahn um noch einen Schirm reicher machen.

Überraschenderweise komme ich ohne größere Verspätungen an meinem Ziel an. Bevor ich den schwerfälligen Knopf der Klingel betätige, drehe ich mich noch einmal um und sehe wie die Sonne langsam hinter den Gebäuden von Berlin aufgeht. Ein Sonnenstrahl trifft mich genau im Gesicht und ich genieße die Wärme für einen kurzen Moment. „Heute kann einfach nur gut werden." sage ich entschlossen zu mir selbst ohne zu merken, dass plötzlich jemand neben mir steht. „Diese Einstellung gefällt mir Frau Winter"

Da steht sie nun, gekleidet in einem dunkelroten Mantel, der ihr fast bis an die Waden reicht. Darunter sieht man schwarze, locker fallende Hosenbeine und rote, hochhackige Stiefeletten, die perfekt auf den Mantel abgestimmt sind. In ihrer rechten Hand hält sie eine große schwarze Tasche, aus der ein noch größerer Aktenordner ragt. Ich beobachte kurz wie sie sich, mit ihrer zierlichen Hand, durch ihre braun-schwarzen Haare fährt. Sie ist wirklich eine Erscheinung und passt mit diesem Outfit einfach perfekt in die herbstliche Stimmung Berlins.

Ich nehme meinen Mut zusammen und antworte schließlich: „Soeben wurde dieser Tag noch besser. Ein tolles Outfit tragen Sie da!"
Ich hätte wissen müssen, dass ihre Antwort mindestens genauso schlagfertig sein wird. „Na sie wissen ja noch gar nicht was ich drunter trage." antwortet sie mit einem etwas frechen Lächeln auf den Lippen.
Ich versuche meine Augen nicht ganz so weit aufzureißen, aber mit dieser Antwort habe ich nun wirklich nicht gerechnet.
Wir grinsen uns Beide für einen Moment freundlich an, bis sie mir einen auffordernden Blick zuwirft. Ich sehe wie sie einen kleinen Schlüsselbund, mit einer Sonnenblume als Anhänger, in der Hand hält und verstehe, dass ich zur Seite gehen soll, damit sie die Tür zum Gebäude öffnen kann. Wir gehen also gemeinsam durch das mir schon bekannte Treppenhaus an dem großen Spiegel vorbei, in dem ich mich zwei Tage zuvor noch etwas gerichtet habe. Der Spiegel, der mir half meinen ersten Eindruck wenigstens ein bisschen zu verbessern.
Daran vorbei, wende ich meinen Blick wieder der Frau zu die gerade ein paar Meter vor mir auf die weiße Tür zuläuft. Sie zieht einen leicht süßlich, blumigen Duft hinter sich her. Ich kann nicht anders, als sie nochmals von oben bis unten zu mustern. Ich war ja schon damals immer begeistert von ihrem Kleidungsstil, aber Live und in Farbe sieht das alles noch besser und stimmiger aus. Da wir die ersten im Büro zu sein scheinen, bleibt die kleine 40-jährige Frau vor der Tür stehen und kramt mit ihrer linken Hand ganz tief in ihrer Manteltasche, bis sie schließlich einen weiteren kleinen Schlüssel in der Hand hält. Ich stehe dicht hinter ihr und warte bis sie die nächste Tür aufschließt. Da nur wir zwei in dem Flur stehen und sonst alles still ist, kann ich deutlich ihre etwas schwerfälligere Atmung hören. Immerhin war das Treppenhaus nicht ganz Ohne und bei den vielen Stufen kommt man schnell aus der Puste.

Die Tür öffnet sich und die Sonne scheint uns Beiden plötzlich grell ins Gesicht, sodass wir die Augen zu Schlitzen formen, um nicht allzu sehr geblendet zu werden. Annalena unterbricht die Stille und fragt: „Möchten sie auch direkt einen Kaffee? Die Kaffeemaschine ist nämlich das Erste was ich hier immer anmache, wenn ich vor den anderen Kollegen da bin."
Erleichtert, dass es nicht nur mir so mit dem Kaffee geht, antworte ich mit einem entschlossenen: „Ja, nichts lieber als das"

Nachdem die Parteichefin in der Büroküche verschwunden war, ziehe ich schließlich meinen Mantel aus und hänge ihn an die Garderobe in der rechten Ecke des großen Eingangsbereiches. Ich laufe vorbei an dem großen Empfangstresen direkt auf die Tür der Küche zu und schaue mit neugierigem Blick um die Ecke. Mittlerweile hat sich Annalena auch ihren Mantel ausgezogen, also nehme ich erneut meinen Mut zusammen und sage: „Jetzt weiß ich was sie drunter tragen und ich kann nur wiederholen was ich vorhin gesagt habt. Ein tolles Outfit tragen sie da!"
Ein freudiges Grinsen macht sich in ihrem Gesicht breit und sie schließt dankend ihre Augen.
Sie sieht wirklich um einiges entspannter aus, als noch vor zwei Tagen. Sie strahlt fast heller, als die herbstlichen Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster des Gebäudes hineinfallen.

Falling slowly Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt